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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Tinukeda’ya ernähren müssen – Pilzen und kleinen, ekligen Insekten –, wäre sie eine weit weniger umgängliche Gefangene gewesen. »Ihr könnt mir nicht geben, was ich brauche, solange ihr mich gefangen haltet. Ganz gleich, was ihr sagt, es kann nichts daran ändern.«
    »Die Gefahr ist zu groß.«
    Miriamel unterdrückte eine erboste Antwort. Mit dieser Methode hatte sie es bereits versucht. Sie musste nachdenken.
     
    Yis-hadra kratzte mit einem gebogenen, oben abgeflachten Werkzeug an einer Stelle der Höhlenwand herum. Miriamel wusste nicht genau, was Yis-fidris Gattin damit vorhatte, aber es schien ihr Freude zu machen, denn sie sang leise vor sich hin. Je aufmerksamer Miriamel zuhörte, desto mehr zog das Lied sie in seinen Bann. Es war kaum lauter als ein Flüstern, hatte aber trotzdem etwas von der kunstvollen Macht von Gan Itais Kilpagesängen. Yishadra sang im Rhythmus der Bewegungen ihrer langen, anmutigen Hände. Aus Musik und Bewegung entstand etwas Neues und Einzigartiges. Miriamel saß neben ihr und lauschte gefesselt. »Baust du etwas?«, fragte sie schließlich, als Yis-hadra eine Pause beim Singen machte.
    Die Unterirdische sah auf. Ein Lächeln erhellte ihr fremdartiges Gesicht. »Dieses S’h’rosa hier – dieser Streifen Stein, der durch anderen Stein läuft«, sie deutete auf eine dunklere, im Glühen ihres Rosenkristalls kaum sichtbare Ader, »es will … herauskommen. Gesehen werden.«
    Miriamel schüttelte erstaunt den Kopf. »Es will gesehen werden?«
    Yis-hadra spitzte nachdenklich den breiten Mund. »Ich kenne deine Sprache nicht so gut. Es … muss? Muss herauskommen?«
    Wie Gärtner, dachte Miriamel verwundert. Sie pflegen den Stein wie Gärtner.
    Laut sagte sie: »Meißelt ihr Bilder in den Fels? Überall in den Ruinen von Asu’a sind die Wände mit wunderschönen Steinschnitzereien bedeckt. Stammen sie von den Unterirdischen?«
    Yis-hadra krümmte die Finger zu einer unverständlichen Gebärde. »Wir haben einen Teil der Wände vorbereitet, damit die Zida’ya ihre Bilder darauf einmeißeln konnten. Aber an anderen Stellen sorgten wir selbst für den Stein und halfen ihm … zu werden. Als man Asu’a baute, arbeiteten Zida’ya und Tinukeda’ya noch Seite an Seite.« Ihre Stimme hatte einen klagenden Ton. »Gemeinsam schufen wir die schönsten Dinge.«
    »Ja. Ich habe einige davon gesehen.« Miriamel sah sich um. »Wo ist Yis-fidri? Ich muss mit ihm sprechen.«
    Yis-hadra schien verlegen. »Habe ich etwas Schlechtes gesagt? Ich kann deine Sprache nicht so gut sprechen wie die der Sterblichen von Hernystir. Yis-fidri spricht besser als ich.«
    »Nein.« Miriamel lächelte. »Es ist alles gut. Aber er und ich haben uns über etwas unterhalten, über das ich gern mehr wüsste.«
    »Ah. Er wird in kurzer Zeit zurückkehren. Er ist nicht hier.«
    »Dann würde ich dir gern weiter bei der Arbeit zuschauen, wenn es dich nicht stört.«
    Yis-hadra erwiderte ihr Lächeln. »Nein, es stört mich nicht. Wenn du willst, erzähle ich dir etwas über den Stein. Steine haben Geschichten, und wir kennen sie. Manchmal glaube ich, wir kennen ihre Geschichten besser als unsere eigenen.«
    Miriamel saß da, den Rücken an die Wand gelehnt, und Yis-hadra setzte ihre Tätigkeit fort und erzählte dabei. Miriamel hatte sich über Felsen und Steine nie viele Gedanken gemacht, aber während sie der leisen, melodischen Stimme der Unterirdischen lauschte, begriff sie, dass auch sie in gewisser Hinsicht Lebewesen wie Tiere und Pflanzen waren, wenigstens für Yis-hadras Volk. Die Steine standen nicht still, aber jede Bewegung dauerte Jahrhunderte. Sie veränderten sich, aber nichts Lebendes, nicht einmal die Sithi, wandelte lange genug unter dem Himmel, um diese Veränderungen zu bemerken. Die Unterirdischen erforschten und hegten die Gebeine der Erde und liebten sie in gewisser Weise sogar. Sie bewunderten die Schönheit glitzernder Edelsteine und glänzender Metalle, schätzten aber auch die geduldige Vielschichtigkeit des Sandsteins und die Kühnheit vulkanischen Glases. Jedes Gestein erzählte seine eigene Geschichte, aber man brauchte eine ganz bestimmte Gabe, um diese langsamen Geschichten zu verstehen. Yis-fidris Gattin mit den riesigen Augen und den behutsamen Fingern kannte sie gut. Miriamel fühlte sich von dem seltsamen Geschöpf eigenartig berührt. Während sie Yis-hadras langsamen, freudigen Worten lauschte, vergaß sie sogar für eine Weile ihren Kummer.

    Eine Hand schloss sich um

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