Der Engelsturm
bestimmte Richtungen gehen lassen – zum Beispiel nicht weiter in den Aldheorte hinein. Anstatt zu versuchen, uns zu töten oder gefangen zu nehmen, hatte man den Eindruck, sie wollten uns … treiben, wie Vieh.« Der Priester rieb sich geistesabwesend die kältegeröteten Nase, die sich von dem Aufenthalt an Deck ganz offensichtlich noch nicht erholt hatte. »Jetzt glaube ich, sie wollten uns vielleicht von den Sithi fernhalten.«
Tiamak legte die Blätter hin, die er in der Hand gehalten hatte; dafür würde später noch Zeit sein. »Also könnte es etwas geben, das die Sithi wissen – ohne dass es ihnen vielleicht selbst bewusst ist. O Du-der-stets-auf-Sand-tritt, hätten wir doch nur den jungen Simon genauer über seine Zeit bei den Sithi ausgefragt!« Er stand auf und wollte zur Kajütentür.
»Ich werde zu Sludig gehen und ihm sagen, dass wir mit Aditu sprechen möchten.« Er blieb stehen. »Aber ich weiß nicht, wie sie von einem Schiff zum andern kommen soll. Die See ist im Augenblick voller Gefahren.«
Strangyeard zuckte die Achseln. »Fragen kann man jedenfalls.«
Tiamak stand da und schwankte im Takt mit den Bewegungen des Schiffs. Dann setzte er sich plötzlich wieder hin. »Es hat Zeit bis morgen früh, wenn der Weg sicher ist. Aber wir können vorher noch viel tun.« Er griff wieder nach den Pergamenten. »Es könnte alles sein, Strangyeard, einfach alles! Wir müssen alle Orte durchgehen, an denen wir gewesen sind, jede Person, die uns begegnet ist. Bisherhaben wir uns nur mit dem beschäftigt, das vor unserer Nase lag. Jetzt ist es an Euch und mir herauszufinden, was wir übersehen haben, während wir so eifrig auf das Schauspiel von Verfolgung und Krieg achteten.«
»Wir sollten auch mit anderen reden. Sludig hat viel miterlebt, und natürlich müsste man Isgrimnur und Josua fragen. Wenn wir nur wüssten, wonach!« Der Priester seufzte und schüttelte bekümmert den Kopf. »Barmherziger Ädon, wie außerordentlich schade ist es doch, dass wir Geloë nicht bei uns haben. Sie würde wissen, an welcher Stelle man anfangen muss.«
»Aber sie ist nun einmal nicht hier und Binabik auch nicht. Wir müssen allein handeln. Es ist die bittere Pflicht, die uns auferlegt ist, so wie Camaris sein Schwert schwingen und Josua die Last des Anführers tragen muss.« Tiamak blickte auf den unordentlichen Stoß Handschriften in seinem Schoß. »Aber Ihr habt recht, der Anfang ist das Schwerste. Wenn uns doch nur jemand mehr über die Entstehung der Schwerter erzählen könnte! Wäre doch nur dieses Wissen nicht verlorengegangen!«
So saßen die beiden da, für eine Weile in düsteres Schweigen versunken. Von neuem erklang die Stimme der Niskie und schnitt durch das Toben des Sturms wie eine scharfe Klinge.
Zuerst hinderte die schiere Größe des Gebildes Miriamel daran, es zu erkennen. Es hatte den rosigen Glanz der Morgenröte und fleischige, samtige Blütenblätter, auf denen die Tautropfen wie Glaskügelchen funkelten. Selbst die Dornen, jeder einzelne ein großer, gebogener Spieß aus dunklem Holz, wirkten, als müsse man sie einzeln betrachten und darüber nachsinnen. Erst nach einer ganzen Weile – jedenfalls kam es ihr so vor – begriff sie, dass das Ungeheure, das sich da langsam vor ihren Augen drehte, eine … Rose war. Sie drehte sich, als zwirbelten riesige, aber unsichtbare Finger ihren Stiel. Ihr Duft war so überwältigend, dass das ganze Weltall in Parfüm zu ersticken drohte, und doch flößte der Duft, während er ihr den Atem raubte, zugleich Leben ein.
Die weite, ununterbrochene Grasebene, auf der die Rose sich drehte, begannzu schwanken. Unter der Riesenblüte brach der Boden auf; graue Steine, hoch und eckig, wuchsen empor und drängten sich wie Maulwürfe, die zum Sonnenlicht streben, aus dem Erdreich. Als sie hervorbrachen und Miriamel bemerkte, dass sie an der Unterseite zusammenhingen, wurde ihr plötzlich klar, dass sie eine gewaltige Hand sah, die durch die Erdoberfläche brach. Die Hand hob sich und warf Gras und Erdklumpen ab. Weit spreizten sich die Steinfinger und umfingen die Rose. Gleich darauf schloss sich die Hand und drückte zu. Die ungeheure Rose hörte auf, sich zu drehen, und verschwand allmählich in dem Griff, der sie zerquetschte. Ein einziges, breites Blütenblatt glitt, langsam hin- und herflatternd, zu Boden. Die Rose war tot …
Blinzelnd fuhr Miriamel in die Höhe. Das Herz klopfte ihr wild in der Brust. Die Höhle war dunkel bis auf den mattrosa
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