Der Engelsturm
Pergamentstapel herum, die über die Kajüte verstreut lagen. »Ja, hier.« Er hielt es mit zugekniffenem Auge ans Licht. »Soll ich Euch etwas daraus vorlesen?«
Tiamak streckte die Hand aus. Er empfand große Zuneigung zu dem Archivar, eine Verbundenheit, wie er sie bisher nur bei dem alten Doktor Morgenes gefühlt hatte. »Nein«, antwortete er sanft. »Lasst mich lesen. Wir wollen Euer armes Auge heute nicht noch mehr anstrengen.«
Strangyeard murmelte etwas und reichte ihm die Blätter.
»Es ist der Absatz über diese Worte der Erschaffung , der mir nicht aus dem Kopf will«, erklärte Tiamak. »Kann es sein, dass dieselben Worte der Macht bei der Entstehung aller drei Schwerter angewendet wurden?«
»Aber wie kommt Ihr darauf?« Strangyeards Gesicht bekam einen gespannten Ausdruck. »Nisses’ Buch scheint, wenigstens wie Morgenes es zitiert, nichts darüber auszusagen. Die Schwerter sind alle verschiedenen Ursprungs, und eines davon wurde von Menschen gemacht.«
»Aber es muss etwas geben, das sie miteinander verbindet«, entgegnete Tiamak, »und etwas anderes fällt mir nicht ein. Warum sollte es sonst so große Macht verleihen, wenn man sie alle drei zusammen hat?« Er blätterte in den Pergamenten.
»Zu ihrer Erschaffung war große Zauberkunst erforderlich. Es muss diese Zauberkunst sein, die uns Macht über den Sturmkönig geben kann.«
Draußen erhob sich ein Niskielied und durchbohrte den klagenden Ton des Windes. Die Melodie vibrierte von wilder Macht, ein fremdartiger Klang, unheimlicher noch als das Donnergrollen, das man in der Ferne hörte.
»Wenn es doch nur jemanden gäbe, der genau wüsste, wie dieSchwerter damals geschmiedet wurden«, murmelte Tiamak in ohnmächtigem Grimm. Seine Augen starrten auf Morgenes’ sorgfältige, zierliche Buchstaben, ohne sie wirklich zu sehen. Höher stieg das Niskielied, bebte und erstarb in einem klagenden Trauerton. »Könnten wir doch mit den Unterirdischen sprechen, die Minneyar schufen! Aber Eolair hat gesagt, dass sie weit im Norden leben, viele Meilen vom Hochhorst entfernt. Und die Nabbanai-Schmiede, von denen Dorn stammt, sind seit Jahrhunderten tot.« Er zog die Stirn in Falten. »Wir haben so viele Fragen und immer noch so wenige Antworten. Es ist ermüdend, Strangyeard. Offenbar bringt uns jeder Schritt nach vorn gleichzeitig zwei Schritte zurück und mitten in das größte Durcheinander.«
Der Archivar schwieg. Tiamak suchte nach den zerlesenen Seiten, in denen beschrieben stand, wie Ineluki in den Schmieden unter Asu’a Leid schuf. »Hier steht es«, sagte er endlich. »Ich werde es vorlesen.«
»Einen Augenblick«, unterbrach Strangyeard. »Tiamak … vielleicht ist die Antwort auf eine Frage zugleich die Antwort auf beide.«
Tiamak sah auf. »Wie bitte?« Mühsam riss er den Blick von der Seite los, die er gerade studiert hatte.
»Euer zweiter Gedanke war, dass man uns vielleicht absichtlich in die Irre geführt hat – dass der Sturmkönig Elias und Josua gegeneinander ausspielt und inzwischen seine eigenen Ziele verfolgt.«
»Und?«
»Vielleicht ist es nicht nur irgendein heimliches Ziel, das er verbergen möchte. Vielleicht will er auch das Geheimnis der drei Schwerter vor uns bewahren.«
In Tiamak dämmerte Verständnis. »Aber wenn der ganze Streit zwischen Josua und dem Hochkönig nur deshalb eingefädelt wurde, damit niemand erfährt, wie man sich die Schwerter zunutze machen kann, dann gibt es vielleicht eine ganz einfache Lösung – etwas, das uns sofort auffallen würde, wenn wir nicht abgelenkt wären.«
»Genauso ist es!« Strangyeard, auf der Jagd nach einer Idee, hatte seine sonstige Scheu ganz verloren. »Genau so. Entweder ist es etwas so Einfaches, dass wir es sehen müssten, wenn uns die täglichenKämpfe nicht derart in Anspruch nähmen, oder es gibt eine Person oder einen Ort von größter Wichtigkeit, die wir aber nicht erreichen können, solange der Bruderkrieg andauert.«
Ihr-die-wacht-und-gestaltet, dachte Tiamak staunend, wie wunderbar ist es doch, jemanden zu haben, mit dem man Gedanken austauschen kann, jemanden, der versteht, der Fragen stellt und nach Bedeutungen sucht! Für einen Augenblick vermisste er nicht einmal seine Heimat im Sumpf. Laut sagte er: »Hervorragend, Strangyeard. Es lohnt sich, darüber nachzudenken.«
Der Archivar errötete, sprach aber mutig weiter. »Ich erinnere mich daran, als wir aus Naglimund flohen. Damals sagte Deornoth, es sähe so aus, als wollten die Nornen uns nicht in
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