Der Engelsturm
»Fragst du, ob wir kämpfen werden? Natürlich. Die Qanuc verschenken ihr Leben nicht. Mindunob inik yat sagen wir, ›mein Haus wird dein Grab sein‹.« Er lachte bitter. »Doch mit Gewissheit möchte auch der grimmigste Troll lieber einen Weg finden, seine Höhle und sein Leben zu behalten.«
»Ich habe mein Messer wiedergefunden.« Miriamel trommelte erregt mit den Fingern auf ihrem Bein und gab sich Mühe, mit ruhiger Stimme zu sprechen. In der Falle! Sie saßen in der Falle, es gab keinen Fluchtweg, und die Nornen standen vor der Tür! »Barmherzige Elysia, hätte ich doch nur einen Bogen! Ich besitze zwar nur Simons Weißen Pfeil, aber er wäre bestimmt einverstanden, wenn ich damit einen Nornen durchbohrte. Vielleicht kann ich jemanden damit erstechen.«
Yis-fidri betrachtete die beiden ungläubig. »Auch ein Bogen mit einem Köcher voll Vindaomeyos besten Pfeilen würde euch nicht vor den Hikeda’ya retten, ganz zu schweigen von einem armseligen Messer. «
»Niemand redet davon, dass wir uns retten könnten«, fauchte Miriamel ihn an. »Aber wir sind schon zu weit gekommen, um uns von ihnen einschüchtern zu lassen wie verängstigte Kinder.« Sie atmete tief ein, um sich zu beruhigen. »Du bist stark, Yis-fidri, das habe ich gemerkt, als du mich forttrugst. Du wirst dich doch nicht einfach von ihnen umbringen lassen?«
»Kampf ist nicht unser Weg«, fiel ihr Yis-hadra ins Wort. »Wir waren nie die Starken – nicht auf diese Art.«
»Dann haltet euch im Hintergrund.« Miriamel kam sich vor wie ein übler Prahlhans und Wirtshausschläger, aber der Gedanke an das, was ihnen vielleicht bevorstand, fiel ihr schon schwer genug; sie konnte nicht noch auf vornehme Zurückhaltung achten. Der bloße Anblick der zitternden, furchtsamen Unterirdischen erschütterte ihre Entschlusskraft, unter der die Angst gähnte wie ein Abgrund, in den sie jederzeit fallen konnte, um dann ins Bodenlose zu stürzen. »Zeigt uns die Tür. Binabik, wir sollten uns wenigstens ein paar Steine hinlegen. Der gute Gott weiß, dass es hier genug davon gibt.«
Die aneinandergedrängten Unterirdischen beobachteten sie so misstrauisch, als mache die bloße Vorbereitung eines Widerstands sie zu einem fast ebenso gefährlichen Feind wie die Nornen. Rasch sammelten die beiden einen Haufen Steine. Binabik zerlegte seinen Wanderstab und steckte das Stück mit dem Messer in den Gürtel. Das Blasrohr nahm er in die Hand.
»Lieber erst das hier.« Er schob einen Dorn in die Röhre. »Vielleicht macht sie ein Tod, den sie nicht sehen können, etwas langsamer beim Hereinkommen.«
Die Tür unterschied sich in keiner Weise vom Rest der von Felsfurchen durchzogenen Höhlenwand, aber als Miriamel und der Troll sich davor aufstellten, begann sich im Stein eine dünne silbrige Linie abzuzeichnen.
»Ruyan geleite uns!«, sagte Yis-fidri traurig. »Sie haben denSchutzzauber durchbrochen.« Von seinen Gefährten kam ein Chor angstvoller Töne.
Der Silberglanz stieg die Felswand hinauf, bog dann eine Männerarmlänge im rechten Winkel ab und senkte sich wieder nach unten. Als das ganze Stück von einem Lichtfaden eingefasst war, begann der Stein im Inneren des glühenden Strichs sich langsam nach innen zu drehen. Scharrend bewegte er sich über den Höhlenboden. Miriamel sah dem schwerfälligen Vorgang angstvoll und wie gebannt zu. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Tritt nicht vor mich«, warnte Binabik ganz leise. »Ich werde dir sagen, wann es sicher ist.«
Knirschend kam die Tür zum Stehen. Als eine Gestalt in der schmalen Öffnung erschien, hob Binabik das Blasrohr an den Mund. Die dunkle Gestalt taumelte und stürzte vornüber. Die Unterirdischen gaben ein furchtsames Stöhnen von sich.
»Du hast ihn getroffen!«, jubelte Miriamel. Sie nahm einen Stein in die Hand, um ihn auf den nächsten Eindringling zu werfen … aber niemand trat in die Tür.
»Sie warten ab«, flüsterte Miriamel dem Troll zu. »Sie haben gesehen, was mit dem Ersten geschehen ist.«
»Aber ich habe ja gar nichts getan!«, sagte Binabik. »Noch ist mein Dorn nicht geflogen.«
Der Gestürzte hob den Kopf. »Schließt … die … Tür.« Jedes Wort war qualvoll und mühsam. »Sie … sind … hinter mir.«
Miriamel riss erstaunt den Mund auf. »Es ist Cadrach!«, rief sie verblüfft.
Binabik schaute erst sie, dann den Mönch an, der erneut zusammengebrochen war. Er warf seinen Wanderstab hin und rannte auf ihn zu.
»Cadrach?« Miriamel schüttelte verstört den Kopf.
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