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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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es, um die Stricke durchzuschneiden.« Er schnappte nach Luft. »Alle wollen es mir wegnehmen.«
    Simon sah auf die lange Klinge. Selbst in der düsteren Schmiedehalle erkannte er sie. Gegen alle Vernunft, gegen jede Wahrscheinlichkeit … hier war das Schwert, nach dem sie suchten.
    »Hellnagel«, murmelte er.
    Der Blinde hob plötzlich die freie Hand. »Wo bist du?«
    Simon kam ein paar schmerzhafte Schritte näher. »Hier bin ich.
    Wir müssen weg. Wie seid Ihr hierhergekommen? Wie fandet Ihr diesen Ort?«
    »Hilf mir.«
    Guthwulf streckte den Arm aus.
    Simon ergriff ihn. »Wohin?«
    »Dem Wasser nach. Wo es nach unten fließt.« Er begann, an der Rinne entlangzuhinken. Die Schmiedeknechte wichen zurück und machten ihnen Platz. Sie beobachteten die beiden mit ängstlicher Spannung.
    »Ihr seid frei!«, krächzte Simon ihnen zu. »Frei!«
    Aber sie glotzten ihn an, als rede er in einer fremden Sprache.
    Aber wie können sie frei sein, wenn sie uns nicht folgen? Die Schmiede ist noch immer verschlossen, die Tore sind verriegelt. Wir sollten ihnen helfen. Wir sollten sie hinausführen.
    Aber Simon hatte nicht die Kraft dazu. Neben ihm murmelte Guthwulf vor sich hin, schlurfend wie ein lahmer Greis. Wie konnten sie andere retten? Die Schmiedeknechte würden sich ihren eigenen Weg suchen müssen.
    Das Wasser floss schäumend in eine Spalte in der Höhlenwand.
    Als Guthwulf sich am Gestein entlangtastete, war Simon einen Augenblick überzeugt, der blinde Graf hätte nun auch noch den Rest seines Verstandes verloren und sie wären dem Tod nur entgangen, um jetzt in die Finsternis hinabgespült zu werden. Aber es gab einen schmalen Pfad am Rand des Wasserlaufs, den Simon im Dunkeln nie gefunden hätte. Guthwulf, der kein Licht brauchte, folgte dem Pfad in die Tiefe, wobei seine Finger den Weg suchten. Simon versuchte ihm zu helfen, ohne selbst das Gleichgewicht zu verlieren. Bald ließen sie den letzten Schimmer der Fackeln hinter sich und waren von schwarzer Finsternis umgeben. Neben ihnen rauschte lärmend das Wasser.
    Die Schwärze war so tief, dass Simon Mühe hatte, nicht völlig zu vergessen, wer er war und was er wollte. Bruchstücke der Bilder, die ihm Leleth gezeigt hatte, stiegen aus seiner Erinnerung auf, Farben und Szenen, so schillernd und in sich verschlungen wie eine Ölschicht auf einer Pfütze. Ein Drache, ein König mit einem Buch, ein Mann, der Angst hatte und in den Schatten nach Gesichtern suchte – was bedeutete das alles? Simon hatte keine Lust mehr, darüber nachzudenken. Er wollte schlafen. Schlafen …
    Das Brüllen des Wassers war sehr laut. Simon tauchte plötzlichaus einem Nebel von Schmerzen und Bewusstlosigkeit auf und stellte fest, dass er sich gefährlich weit hinausgelehnt hatte. Hastig griff er nach der zerklüfteten Wand und hielt sich daran fest. »Guthwulf!«
    »Sie sprechen in so vielen Zungen«, murmelte der Blinde. »Manchmal glaube ich sie zu verstehen, und dann ist wieder alles unklar.« Er klang völlig erschöpft, und Simon fühlte, wie er zitterte.
    »Ich kann … nicht mehr.« Simon klammerte sich an den schroffen Stein. »Ich muss … mich ausruhen.«
    »Wir sind fast da.« Guthwulf stolperte auf dem engen Steig weiter. Simon zwang sich, die Wand loszulassen, um seinen Halt an dem Blinden nicht zu verlieren.
    Sie stapften weiter. Mehrmals fühlte Simon Öffnungen in der Steinwand, über die seine Finger glitten, aber Guthwulf bog nicht ab. Als der Tunnel von lauten Stimmen widerzuhallen begann, fragte sich Simon schon, ob ihn Guthwulfs Wahn nicht auch erfasst hätte, bis er kurze Zeit später bernsteinfarbenes Fackellicht auf der Höhlenwand aufglänzen sah und begriff, dass jemand sie verfolgte.
    »Sie sind hinter uns her! Es muss Pryrates sein.« Er rutschte aus und ließ den Blinden los, um sich festzuhalten. Als er die Hand wieder ausstreckte, war Guthwulf verschwunden.
    Ein Augenblick panischer Angst folgte. Dann fand Simon den Eingang eines Seitentunnels. Guthwulf stand gleich dahinter.
    »Fast da«, schnaufte der Graf. »Fast da. Die Stimmen – Ädon, wie sie schreien! Aber ich habe doch das Schwert. Warum schreien sie?«
    Er schwankte den Tunnel hinunter und stieß dabei gegen die Wände. Simon ließ die Hand am Rücken des Grafen, denn Guthwulf bog noch oft ab. Bald konnte sich Simon nicht mehr an die vielen Abzweigungen erinnern. Das gab ihm Hoffnung – ihre Verfolger würden es nicht leicht haben.
    Der Marsch durch die Schwärze schien kein Ende zu nehmen.

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