Der Engelsturm
Wiederaufbau unseres Landes gibt es viel zu tun, und ich war schon allzu lange fort.«
»Kann ich Euch irgendwie noch helfen?«, fragte Jiriki.
»Ich brauche keine Hilfe mehr.« Eolair sprach schärfer, als ereigentlich wollte. »Wir Sterblichen haben Erfahrung darin, unsere Toten zu begraben.«
Er drehte sich um und ging, den Mantel als Schutz vor dem Schneegestöber eng um den Körper gezogen.
Isgrimnur hinkte an Deck und fluchte dabei über seine Schmerzen und die Mühe, die ihn jeder Schritt kostete. Er bemerkte die dunkle Gestalt erst, als er fast über sie gestolpert wäre.
»Seid gegrüßt, Herzog Isgrimnur.« Aditu drehte sich um und sah ihn an. »Ist es hier draußen im Wind nicht viel zu kalt für einen Sterblichen?«
Isgrimnur verbarg seinen Schreck, indem er sich umständlich die Handschuhe zurechtzog. »Vielleicht für Südländer wie Tiamak. Aber mein Volk, Herrin, sind die Rimmersleute. Wir sind abgehärtet gegen Kälte.«
»Bin ich Eure Herrin?«, fragte Aditu belustigt. »Schließlich besitze ich bei den Sterblichen keinerlei Titel. Und ich kann nicht glauben, dass Herzogin Gutrun einen anderen Wortsinn billigen würde.« Isgrimnur verzog das Gesicht und war plötzlich dankbar für den kalten Wind, der seine Wangen rötete. »Es ist die reine Höflichkeit, Her …« Er stockte und versuchte es noch einmal. »Es fällt mir schwer, jemanden beim Vornamen zu nennen, der … der …«
»Der älter ist als Ihr?« Sie lachte, ein nicht unangenehmer Laut. »Wieder eine Schwierigkeit, an der ich schuld bin! Dabei bin ich wirklich nicht zu den Menschen gekommen, um ihnen Unbehagen zu bereiten.«
»Seid Ihr es denn tatsächlich? Älter als ich?« Isgrimnur war sich nicht sicher, ob die Frage vielleicht unhöflich war – aber schließlich hatte Aditu ja selbst davon angefangen.
»Oh, das glaube ich schon … obwohl mein Bruder Jiriki und ich bei unserem Volk noch als jung gelten. Wir sind beide in der Verbannung geboren, nach dem Untergang von Asu’a. Für manche, wie meinen Oheim Khendraja’aro, sind wir fast noch Kinder, denen man auf keinen Fall Verantwortung übertragen darf.« Sie lachte wieder.»Ach, der arme Onkel. Er hat in letzter Zeit so viel Empörendes erlebt – einen Sterblichen in Jao é-Tinukai’i, den Bruch des Paktes, Zida’ya und Menschen, die Seite an Seite kämpfen. Ich fürchte, er wird die Pflichten, die er gegenüber meiner Mutter und dem Haus der Tanzenden Jahre hat, noch erfüllen und sich dann einfach zur Ruhe legen. Manchmal sind die Stärksten eben die Empfindlichsten, meint Ihr nicht auch?«
Isgrimnur nickte. Ausnahmsweise verstand er, was die Sitha sagen wollte. »Ja, das habe ich auch schon bemerkt. Manchmal haben diejenigen die meiste Angst, die nach außen am mutigsten auftreten.«
Wieder ein Lächeln. »Ihr seid ein sehr weiser Sterblicher, Herzog Isgrimnur.«
Der Herzog hustete verlegen. »Ich bin ein sehr alter Sterblicher, dem außerdem jeder Knochen im Leib wehtut.« Er blickte über die kabbelige Bucht. »Und morgen sollen wir landen. Ich bin nur froh, dass wir hier auf dem Kynslagh Schutz gefunden haben – ich fürchte, der größte Teil von uns hätte die Stürme und die Kilpa im offenen Meer nicht mehr sehr lange ausgehalten, und Gott weiß, wie sehr ich Schiffe hasse –, aber ich begreife trotzdem nicht, wieso Elias bisher keine Hand gerührt hat, um sich zu verteidigen.«
»Das weiß ich auch nicht«, pflichtete Aditu ihm bei. »Vielleicht glaubt er, die Mauern seines Hochhorstes seien Verteidigung genug.«
»Möglich.« Isgrimnur sprach aus, was auch andere in der Flotte des Prinzen fürchteten: »Vielleicht wartet er aber auch auf Verbündete – von der Sorte, die er in Naglimund hatte.«
»Auch das ist möglich. Euer Volk und mein Volk haben schon sehr viel über seine Absichten nachgedacht.« Sie zuckte die Achseln, eine geschmeidige Bewegung, die Teil eines rituellen Tanzes hätte sein können. »Aber darauf wird es bald nicht mehr ankommen. Bald werden wir es aus erster Hand erfahren, wie Ihr es wohl ausdrückt.«
Die beiden verstummten. Der Wind war nicht besonders stark, aber bitterkalt. Obwohl er aufgrund seiner Herkunft abgehärtet war, zog sich Isgrimnur unwillkürlich den Schal am Hals höher.
»Was geschieht eigentlich mit Eurem Feenvolk, wenn es älter wird?«, fragte er unvermittelt. »Wird es immer weiser? Oder töricht und rührselig, wie manche von uns?«
»Alter bedeutet für uns etwas anderes als für Euch«, entgegnete
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