Der Engelsturm
Abschluss bringen wollte. Simon rollte sich zur Kugel zusammen.
»Komm, Junge«, flüsterte eine Stimme. Jemand versuchte ihm zu helfen, damit er aufsitzen konnte. Neben ihm kauerte Stanhelm, sein Freund aus der Schmiede. Er schien sich selbst kaum regen zu können; ein Arm baumelte nutzlos und verkrümmt vor der Brust, und sein Hals stand merkwürdig schief.
»Hilf uns.« Simon gab sich alle Mühe aufzustehen. Jeder Atemzug war ein Dolchstoß in seiner Brust.
»Nichts mehr übrig von mir.« Selbst Stanhelms Sprache war verwaschen. »Aber schau auf das Rad, Junge.«
Während Simon sich anstrengte, den Sinn dieser Aufforderung zu begreifen, näherte sich einer von Inchs Vertrauten.
»Fass ihn nicht an«, bellte er, »der gehört dem Doktor.«
»Halt’s Maul«, versetzte Stanhelm kurz. Der Scherge hob die Hand, als wollte er ihn schlagen, aber plötzlich standen mehrere Männer um ihn herum. Ein paar trugen Eisenstücke, schwer und scharfkantig.
»Du hast’s gehört«, knurrte einer von ihnen Inchs Speichellecker an. »Halt’s Maul.«
Der Mann sah sich um und erwog die Möglichkeiten. »Wenn der Doktor davon hört, wird er’s euch schon heimzahlen. Den da drüben hat er schnell genug erledigt.«
»Dann geh doch und sieh zu«, zischte ein anderer Knecht. DieMänner schienen Angst zu haben, aber doch Grenzen zu ziehen: Auch wenn sie noch nicht bereit waren, gegen den riesenhaften Aufseher vorzugehen, wollten sie doch nicht zulassen, das Inchs Scherge Stanhelm oder Simon zusammenschlug. Dieser wich fluchend zurück und beeilte sich, den sicheren Dunstkreis seines Meisters aufzusuchen.
»So, Junge«, flüsterte Stanhelm wieder. »Schau auf das Rad.«
Halb betäubt von den Ereignissen starrte Simon den Schmiedeknecht an und versuchte krampfhaft zu verstehen, was der andere meinte. Schließlich drehte er sich langsam um und begriff.
Das große hölzerne Schaufelrad war angehoben worden, sodass es fast zweimal so hoch wie ein Mann über der Wasserrinne hing. Inch, der dem jetzt hilflos dahintreibenden Guthwulf ein Stück gefolgt war, stand direkt darunter.
Stanhelm streckte den verkrümmten, zitternden Arm aus. »Da. Das ist das Getriebe.«
Simon stand mühsam auf und machte ein paar wacklige Schritte auf das gewaltige Gerüst zu. Der Hebel, den Inch damals vor seinen Augen betätigt hatte, war hochgestellt und mit einem Seil gesichert. Langsam, mit brennenden Muskeln und verkrampften Händen, lockerte Simon das Seil und entfernte es. Dann packte er mit schlüpfrigen, tauben Fingern den Hebel. Inch hatte Guthwulf gerade wieder untergetaucht und beäugte die Qualen seines Opfers mit gelassener Aufmerksamkeit. Der Blinde trieb hilflos in der Strömung, von Inch fort und auf Simon zu. Jetzt schien er außer Reichweite des Rades zu sein.
Simon flüsterte die wenigen Worte des Elysiagebetes, die er noch wusste, und zog an dem Holzhebel. Der Hebel bewegte sich nur ein ganz kleines Stück, aber der Rahmen, der das Rad festhielt, knarrte. Inch schaute auf und in die Runde, bis sein einäugiger Blick auf Simon fiel.
»Küchenjunge! Du …«
Wieder drückte Simon auf den Hebel und sprang dabei mit beiden Füßen in die Luft, sodass sein ganzes Gewicht daran hing. Es tat so weh, dass er vor Schmerz laut aufschrie. Wieder knarrte der Rahmen, dann ein Ächzen und Quietschen, und der Hebel schlug krachendnach unten. Das Rad erbebte und stürzte mit donnerndem Aufklatschen in die Rinne. Inch versuchte, einen Satz nach vorn zu machen, verschwand aber unter den gewaltigen Schaufeln.
Einen Augenblick war es in der Höhle totenstill. Nur das Rad begann sich langsam zu drehen. Dann, als gebäre der schäumende Wasserlauf ein Ungeheuer, brach Inch aus den Fluten. Er brüllte vor Wut. Aus dem aufgerissenen Mund rann Wasser.
»Ich bin der Doktor!«, kreischte er und schwang die Faust. »Mich könnt ihr nicht töten! Nicht Doktor Inch!«
Simon brach zusammen. Er hatte getan, was er konnte.
Inch tat einen gurgelnden Schritt und fing plötzlich an zu fliegen. Simon quollen die Augen aus dem Kopf. Die ganze Welt war verrückt geworden.
Inchs Körper hob sich aus dem Wasser. Erst als er vollständig sichtbar war, erkannte Simon, dass sich der breite Gürtel des Schmiedemeisters an der Befestigung eines Schaufelblatts verfangen hatte.
Das Wasserrad trug ihn nach oben. Der Riese war jetzt wie von Sinnen. Laut tobend musste er erleben, wie ihm etwas zusetzte, das noch größer war als er. Er wand sich am Rand des Schaufelblattes
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