Der Engelsturm
Hintergrund. Simon saß im Dunkeln und fühlte das Schwert wie eine Verlängerung seines Arms und seines Ichs. Trotz seiner schmerzenden Muskeln stand er auf und führte Hiebe gegen die lichtlose Leere, bis ihm entsetzt einfiel, dass er versehentlich die felsige Wand der Höhle treffen und Hellnagels Schneide schartig machen könnte. Sofort setzte er sich wieder hin. Dann kroch er in seine Ecke der Höhle und streckte sich auf dem Steinboden aus, das Schwert im Arm wie ein Kind. Das Metall war kalt auf seiner Haut und die Klinge scharf, aber er wollte nicht loslassen. Auf der anderen Seite der Kammer murmelte Guthwulf unruhig vor sich hin.
Eine ganze Zeit war vergangen, doch Simon wusste nicht, ob er geschlafen hatte oder nicht. Plötzlich merkte er, dass etwas fehlte. Er konnte den Grafen nicht mehr atmen hören. Er kroch hastig überden holprigen Boden und klammerte sich dabei an die unsinnige Hoffnung, Guthwulf hätte sich vielleicht so weit erholt, dass er die Höhle verlassen könnte. Aber die Tatsache, dass seine eigenen Finger noch immer Hellnagel umklammerten, machte das höchst unwahrscheinlich; der Blinde hätte niemals geduldet, dass ein anderer sein Schwert behielt.
Als Simon ihn berührte, war die Haut des Grafen so kühl wie Flusslehm.
Simon weinte nicht, aber das Gefühl des Verlustes ging tief. Er trauerte weniger um den Menschen Guthwulf, den er außer in diesen letzten, traumähnlichen Stunden oder Tagen nur als furchterregende Gestalt gekannt hatte, als um sich selbst. Schon wieder war er allein zurückgeblieben.
Nein, nicht ganz. Etwas stieß gegen sein Schienbein. Die Katze schien seine Aufmerksamkeit zu wünschen. Bestimmt vermisste sie ihren Gefährten. Vielleicht dachte sie auch, er könne Guthwulf aufwecken, nachdem es ihr nicht gelungen war.
»Tut mir leid«, flüsterte er, streichelte ihren Rücken und zupfte sanft an ihrem Schwanz. »Er ist von uns fortgegangen. Ich bin auch einsam.«
Er fühlte sich leer. Eine Weile saß er nur da und dachte über seine Lage nach. Es blieb ihm jetzt nichts anderes übrig, als sich in den Irrgarten der lichtlosen Tunnel hinauszuwagen, auch wenn er wenig Hoffnung hatte, dort ohne Führer herauszufinden. Zweimal schon war er durch dieses spukhafte Labyrinth geirrt, beide Male so dicht vom Tod verfolgt, dass er dessen geduldige Schritte hinter sich hören konnte; es hieße, das Schicksal zu versuchen, wenn er es ein drittes Mal darauf ankommen ließ. Andererseits hatte er kaum eine andere Wahl. Irgendwo über ihm ragte der Engelsturm in den Himmel, und Hellnagel musste dorthin gebracht werden. Wenn es Josua und die anderen nicht geschafft hatten, sich mit Dorn dorthin durchzuschlagen, würde zumindest er tun, was in seinen Kräften stand, auch wenn es aussichtslos schien. Das schuldete er den vielen, die für seine Freiheit ihr Leben geopfert hatten.
Es fiel ihm schwer, Hellnagel aus der Hand zu legen – schon jetzt empfand er etwas von Guthwulfs Besitzgier, obwohl es in der kleinenKammer nichts gab, das das Schwert gefährden konnte –, aber mit einem Schwert in der Hand konnte man nicht richtig arbeiten. Er lehnte es an die Wand und begann mit der wenig angenehmen Aufgabe, den toten Grafen auszuziehen. Als er Guthwulf die zerlumpten Kleider abgenommen hatte, suchte er einen Teil der in der Höhle liegenden Lumpen zusammen und umwickelte damit den Körper des Toten, ein armseliger Versuch, das Werk der Priester im Haus der Vorbereitung nachzuahmen. Ein Teil von ihm fand es lächerlich, sich solche Mühe mit einem Mann zu geben, der nach allem, was Simon von ihm wusste, im Leben wenig beliebt gewesen war und hier allein und unentdeckt liegen bleiben würde. Aber Simon empfand den unwiderstehlichen Drang, dem Blinden seine Wohltat zu vergelten. Morgenes und Maegwin hatten ihr Leben für ihn gegeben, ohne dafür – außer in Simons Herz – mit einem Denkmal oder einer Zeremonie belohnt zu werden. Wenigstens Guthwulf sollte nicht ohne einen Herold, der ihn ankündigte, in die Gefilde des Jenseits eingehen.
Als er fertig war, stand er auf.
»Unser Herr behüte dich«,
begann er und versuchte mühsam, sich an den Wortlaut des Totengebets zu erinnern.
»Und Usires, sein eingeborener Sohn, erhebe dich.
Mögest du eingehen in die grünen Täler
Seiner Herrlichkeit,
Wo die Seelen der Guten und Gerechten
Von den Hügeln singen,
Und die Engel in den Bäumen
Mit Gottes Stimme Freude verkünden …«
Als das Gebet beendet war,
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