Der Engelsturm
kommende Sperre stützte sie. Binabik purzelte von ihrer Schulter und fiel zwischen ihr und Cadrach zu Boden.
Als sie wieder sehen konnte, hing die Tür schief im Rahmen, kaum zu erkennen in qualmendem Rauch.
»Durch!«, rief sie leise und zog den Troll am Arm. Er griff nach seinem Reisesack. Dann stolperten sie über die halb umgekippte Tür in das dunkle Loch, das dahinter lag. Miriamel blieb stecken, weil sich ihr Reisesack verkeilte und der Bogen sich an der zerbrochenen Angel verhakte, aber sie konnte sich losreißen. Gleich darauf hatten sie die Schwelle zur großen Vorhalle des Engelsturms überquert und der Druck war plötzlich verschwunden.
»Glücklich waren wir, dass die Angeln an der Außenseite saßen«, keuchte Binabik und fächelte sich Luft zu.
Miriamel blieb erstarrt stehen. Im trüben Licht konnte sie auf der Turmtreppe etwas Hellrotes aufblitzen sehen. Gleich darauf hatte sich der Rauch so weit verzogen, dass sie Pryrates’ rosigglänzenden Schädel deutlich erkannte. Zu seinen Füßen verstreut lagen mehrere Leichen, und vor ihm, mitten im Raum, stand Camaris. Der alte Mann sah den Priester mit so hoffnungsloser Traurigkeit an, dass es Miriamel das Herz in der Brust zerriss.
Jetzt drehte Pryrates dem alten Ritter grinsend den Rücken zu und ging eine Stufe hinunter, um seine unergründlichen schwarzen Augen der Tür zuzuwenden, vor der sie stand. Die Explosion schien so wenig Eindruck auf ihn gemacht zu haben wie ein Blatt, das lautlos zu Boden segelt. Ohne nachzudenken hob sie den Bogen, richtete den Pfeil gerade, spannte und schoss. Sie zielte auf die breiteste Stelle des Körpers, aber der Pfeil flog höher. Als Pryrates zurücktaumelte, glaubte sie an ein Wunder, und als sie den Pfeil aus seinem Hals ragen sah, war sie so sprachlos über ihren eigenen Schuss, dass sie sich nicht einmal freuen konnte. Der Priester brach zusammen und rollte haltlos die wenigen Stufen zum Boden der Vorhalle hinunter.
»Bei Chukkus Steinen!« Der Troll schnappte nach Luft. »Du hast ihm ein Ende gemacht.«
»Onkel Josua!«, rief sie. »Wo bist du? Camaris! Es ist alles eine List! Sie wollten, dass wir ihnen die Schwerter bringen!«
Ich habe ihn getötet. Der Gedanke erfüllte sie mit tiefer, langsam aufblühender Begeisterung. Ich habe das Ungeheuer umgebracht.
»Das Schwert darf nicht mehr weitergehen«, rief Binabik.
Der alte Ritter schwankte ein paar Schritte auf sie zu. Obwohl Pryrates mit dem Gesicht nach unten am Boden lag, tot oder im Sterben, schien sich Camaris noch immer unter dem Einfluss irgendeiner furchtbaren Macht zu befinden. Von Josua war nichts zu sehen. Bis auf den alten Mann lagen alle anderen im Raum leblos am Boden.
Bevor noch jemand etwas sagen konnte, läutete hoch über ihnen im Turm eine Glocke so entsetzlich laut, so dumpf und tief, wie Miriamel es nie im Leben gehört hatte. Sogar die Steine der großenHalle bebten, und das Läuten hallte noch in Miriamels Knochen nach. Einen Augenblick lang schien der Vorraum sich aufzulösen. Schimmerndweiße Wände traten an die Stelle der wasserfleckigen Wandteppiche. Als der Ruf der Glocke verklang, verblasste auch das Trugbild und verschwand.
Miriamel versuchte gerade, wieder zu sich zu kommen, als sich am Fuß der Treppe mühselig eine Gestalt aufrichtete und sich an dem steinernen Bogen festhielt, um nicht umzufallen. Es war Josua. Der Mantel hing ihm in Fetzen vom Körper, und das dünne Hemd war am Hals zerrissen.
»Onkel Josua!«, schrie Miriamel und rannte auf ihn zu.
Er starrte sie mit großen Augen verständnislos an. Dann erkannte er sie. »Du lebst! Gott sei Dank.«
»Es ist alles Betrug«, sagte sie und umarmte ihn. Diese kleine Rückkehr der Hoffnung, während doch unverändert die größten Gefahren drohten, war schmerzhaft wie ein Messerstich. »Der falsche Bote – das war das Gedicht über die Schwerter! Sie wollten die Schwerter hier haben, sie wollten, dass wir sie ihnen brachten!«
Josua löste sich sanft von ihr. Von seinem hohen Haaransatz tropfte ein wenig Blut. »Wer wollte die Schwerter? Ich kann dir nicht folgen.«
»Wir wurden getäuscht, Prinz Josua.« Binabik trat vor. »Es war die ganze Zeit der Plan von Pryrates und dem Sturmkönig, dass wir ihnen die Schwerter bringen sollten. Mein Gedanke ist, dass die Klingen für einen großen Zauber benötigt werden.«
»Wir haben Hellnagel nicht gefunden«, drängte Miriamel. »Habt ihr es?«
Der Prinz schüttelte den Kopf. »Der Grabhügel war
Weitere Kostenlose Bücher