Der Engelsturm
daran.
Miriamel verzog den Mund. »Ich warte nicht. Wenn er mithalten kann, soll er.«
Sie überlegte kurz, zog dann einen der Pfeile wieder aus dem Sack und legte ihn locker auf die Sehne. So bewaffnet trat sie in den schmalen Korridor. Binabik sah sich noch einmal um und eilte ihr nach.
»Er hat so viel Leid wie wir, Miriamel«, sagte er, als er sie eingeholt hatte. »Vielleicht mehr. Und wer von uns kann sagen, wozu er unter Pryrates’ Folter bereit wäre?«
»Er hat mich öfter belogen, als ich zählen kann.« Ihre Wut über Cadrachs Verrat brannte so heftig, dass sie sogar ihre Furcht darüber vergaß. »Ein wahres Wort über die Schwerter oder Pryrates hätte uns vielleicht alle gerettet.«
Binabik zog ein unglückliches Gesicht. »Noch ist nicht alles verloren.«
»Noch.«
Im Wandelgang des Kaplans tauchte Cadrach wieder auf. Der Mönch sagte nichts, zum Teil wahrscheinlich, weil er nur schwer Luft bekam, schloss sich aber dem Troll an. Miriamel gestattete sich einen einzigen, eisigen Blick.
Sie hatten die Tür gerade erreicht, als sich auf einmal wieder die Welt zu verschieben schien. Kurz glaubte Miriamel, bleiche Flammen über die Wände laufen zu sehen. Sie unterdrückte einen lauten Angstschrei, als sie sich in Stücke gerissen fühlte. Dann war das Gefühl vorbei, aber es kam ihr nicht vor, als sei sie wieder ganz die Alte.
Es dauerte lange, bis sie sprechen konnte.
»Die … Kapelle … ist auf der … anderen Seite.« Obwohl hinter den Mauern der Wind unablässig klagte, flüsterte sie. Es erforderte ihre ganze Kraft zu verhindern, dass sich die Angst, die in ihrem Inneren tobte, losriss. Binabik war nervös und ungewöhnlich blass. Cadrach wirkte krank; seine Stirn war feucht, sein Blick glänzte wie im Fieber. »Dort gibt es einen kurzen Gang, der geradewegs in den Turm führt. Achte auf deine Füße. Es liegt überall so viel Gerümpel herum, dass du stolpern und dich verletzen könntest« – sie richtete ihre fürsorglichen Worte absichtlich nur an Binabik – »oder so viel Lärm machst, dass jemand, der sich in der Kapelle befindet, uns kommen hört.«
Der Troll lächelte matt. »Wie Hasenfüße sind die Schritte der Qanuc«, wisperte er, »so leicht auf Schnee und Fels.«
»Gut.« Sie drehte sich um und musterte den Mönch, als wollte sie herausfinden, welcher neue Verrat hinter seinen wässrigen, grauen Augen lauerte. Aber dann entschied sie, dass es nicht darauf ankam. Viel schlimmer konnte auch Cadrach ihre Lage nicht machen; binnen kurzem würde alle Heimlichkeit ohnehin ein Ende haben, und das, was bisher ihre größte Hoffnung gewesen war, hatte sich anscheinend längst gegen sie gerichtet.
»Dann komm mit«, forderte sie Binabik auf.
Als sie die Tür zum Querschiff der Kapelle öffnete, streckte die Kälte den Arm aus und griff nach ihr; eine dampfende Atemwolke stieg in die Luft. Miriamel blieb stehen und lauschte, bevor sie ihre Begleiter in den großen Innenraum führte. In den Ecken und an den Wänden lagen Schneewehen, überall auf den Steinen schimmerten Wasserpfützen. Der größte Teil der Kirchenbänke war verschwunden. Es gab nur noch wenige Wandbehänge, die in zerfetzten, schimmligen Streifen herunterhingen und im Luftzug flatterten. Man konnte sich kaum vorstellen, dass hier einmal ein Ort des Trostes und der Zuflucht gewesen sein sollte.
Der Sturm und der Kampflärm draußen waren hier sehr viel lauter. Als Miriamel aufsah, wurde ihr auch der Grund dafür klar.
Die große Deckenkuppel war zerbrochen. Heilige und Engel aus Glas waren heruntergestürzt und zu buntem Staub zersplittert. Miriamel zitterte. Obwohl sie inzwischen so viel erlebt hatte, erschütterte sie dieser Niedergang einer vertrauten Stätte. Träge schwebten Schneeflocken herunter, und durch den geborstenen Rahmen der Kuppel schaute verzerrt wie ein wütendes Gesicht der sturmdunkle Himmel, rötlich im blutigen Licht des Flammensterns.
Als sie weiter nach vorn gingen, vorbei an Apsis und Altar, sah Miriamel, dass andere Kräfte als die unpersönliche Natur das Werk der Entweihung fortgesetzt hatten. Rohe Hände hatten den Standbildern der heiligen Märtyrer die Gesichter zerschlagen und andere Figuren mit Blut und Schlimmerem beschmiert.
Trotz des tückischen Untergrunds gelangten sie fast lautlos zur anderen Seite des Querschiffs. Dort führte sie Miriamel durch einen schmalen Gang zu einer tief in den Fels gehauenen Tür. Sie bückte sich und lauschte am Schlüsselloch, aber der Widerhall
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