Der Engelsturm
leer.«
»Dann besteht noch Hoffnung! Es ist nicht hier!«
Josua wollte etwas antworten, aber ein lautes, schmerzliches Aufstöhnen von Camaris brachte ihn zum Schweigen.
»Ach, Gott, warum marterst du mich?«, rief der alte Mann und fuhr sich mit der freien Hand an den Kopf, als hätte ein Stein ihn getroffen. »Es ist falsch – diese Antwort ist falsch.«
Im Gesicht des Prinzen standen Schreck und Mitleid. »Wir müssen ihn hier fortschaffen. Etwas in dem Schwert lockte ihn hierher.Wir müssen ihn aus dem Turm bringen, solange er noch bei Verstand ist.«
»Aber Pryrates hat eine Art Sperre um den Turm gelegt«, antwortete Binabik. »Unsere einzige Hoffnung ist, dass jetzt …«
»Das ist meine Strafe!«, rief Camaris. »O mein Gott, es gibt zu viel Finsternis, zu viel Sünde. Es tut mir so leid … so leid!«
Josua wollte zu ihm gehen, sprang aber sofort zur Seite, als Dorn aufblitzte. Der Prinz wich zur Treppe zurück, als wollte er sich zwischen Camaris und jenes Etwas stellen, das ihn so unwiderstehlich rief.
»Das, was Pryrates begonnen hat, ist noch nicht beendet«, erklärte Binabik. »Das Schwert muss hierbleiben!«
Josua schnellte vor einem weiteren, ungeschickt geführten Hieb zurück. Er hielt Naidel vor sich, schien sich aber nicht einmal damit verteidigen zu wollen, als hätte er Angst, den alten Ritter zu verletzen. Miriamel, außer sich vor Schreck, wusste, dass der Prinz sterben würde, wenn er sich nicht mit aller Kraft wehrte.
»Onkel Josua! Kämpfe! Halt ihn auf!«
Wieder wich Josua zurück, die breite Treppe hinauf. Camaris stand jetzt auf der untersten Stufe. Da riss sich Binabik von Miriamel los. Mit einem Satz war er über die stillen Körper vor der Treppe hinweg und warf sich gegen die Kniekehlen des alten Mannes. Camaris stürzte. Als Miriamel herbeieilte, um dem Troll zu helfen, tauchte eine Gestalt neben ihr auf. Überrascht erkannte sie Tiamak, den Wranna.
»Nehmt einen seiner Arme, Herrin Miriamel.« Die Augen des Marschmanns waren groß vor Furcht und seine Stimme zitterte, aber er griff bereits nach unten. »Ich werde den anderen festhalten.«
Obwohl Binabik beide Arme und Knie um die Beine des alten Ritters geschlungen hatte, stand Camaris schon wieder auf. Miriamel packte die Hand, die Binabik abwehren wollte, aber sie glitt ihr aus den verschwitzten Fingern. Nun griff sie nach Camaris’ Oberarm, und diesmal ließ sie auch dann nicht los, als sich Camaris’ lange Muskeln unter ihr spannten. Gleich darauf fielen alle vier wieder hin, mitten unter die verstreuten Körper. Unvermittelt begegnete MiriamelsBlick den halbgeöffneten Augen von Isorn, dessen erschlaffte Züge so weiß waren wie ein Nornengesicht. Fast hätte sie aufgeschrien, aber sie klammerte sich so fest an Camaris’ um sich schlagenden Arm, dass sie jetzt nicht über Isgrimnurs Sohn nachdenken konnte. Um sie herum war nur der Geruch von Angstschweiß und sich wälzenden Körpern. Sie warf einen kurzen Blick auf Josua, der ein Stück weiter oben auf der Treppe stand. Wieder versuchte Camaris sich aufzurichten.
»Josua«, keuchte Miriamel. »Er … entkommt uns! Töte ihn … wenn du musst … aber halte ihn auf!«
Der Prinz starrte den Alten nur an. Miriamel spürte, wie unfassbar stark Camaris war. Er würde sie in wenigen Augenblicken abgeschüttelt haben.
»Töte ihn, Josua!«, schrie sie verzweifelt. Camaris stand schon halb, aber Tiamak hing an seinem Schwertarm; Brust und Bauch des Ritters waren ungeschützt.
»Tut etwas!« Binabik stöhnte vor Schmerz und bemühte sich, Camaris’ Beine zusammenzupressen. »Tut etwas!«
Aber Josua trat nur einen zaudernden Schritt vor, Naidel schlaff in der Hand.
Miriamel ließ Camaris mit einem Arm los und tastete nach seinem Schwertgurt. Als sie ihn hatte, rutschte sie von Camaris’ Rücken herunter, packte den Gurt mit beiden Händen, stemmte die Beine gegen die unterste Stufe und warf sich mit aller Kraft nach hinten. Der Alte schwankte eine Sekunde, aber das Gewicht von Tiamak und Binabik, das an ihm hing, behinderte seine Bewegungen, sodass er das Gleichgewicht verlor. Er wankte und stürzte rückwärts wie ein gefällter Baum.
Miriamels Beine waren unter ihm eingeklemmt. Der Aufprall war so heftig, dass ihr die Luft wegblieb. Als Camaris sich nach einer Weile wieder bewegte, wusste sie, dass sie nicht die Kraft besaß, ihn noch einmal nach unten zu ziehen.
»Ach Gott«, murmelte der Ritter und sah zur Decke auf. »Befreie mich von diesem Lied. Ich
Weitere Kostenlose Bücher