Der Engelsturm
will doch nicht gehen – aber es ist zu stark für mich. Ich habe bezahlt und bezahlt …«
Josua schien fast ebenso gemartert wie Camaris. Er ging nocheine weitere Stufe hinunter, hielt dann inne und stieg rückwärts wieder hinauf. »Barmherziger Gott.« Er richtete sich blinzelnd auf. »Haltet Camaris fest, Miriamel, solange ihr könnt. Ich glaube, ich weiß, wer am Ende der Treppe wartet.« Er wandte sich ab.
»Bleib hier, Josua!«, schrie Miriamel. »Geh nicht!«
»Ich habe keine Zeit mehr!«, rief er ihr über die Schulter noch zu und stieg weiter. »Ich muss zu ihm, solange ich noch kann. Er wartet auf mich.«
Jäh begriff sie, wen er meinte. »Nein«, flüsterte sie.
Camaris lag immer noch am Boden, aber Binabik hatte seine Beine nicht losgelassen. Tiamak war zur Seite geschleudert worden; er kauerte am Fuß der Treppe, rieb sich einen geprellten Arm und musterte Camaris voll ängstlicher Erwartung.
»Tiamak, folgt ihm«, bat Miriamel. »Folgt meinem Onkel. Schnell! Lasst nicht zu, dass sie einander töten.«
Die Augen des Wranna wurden groß. Er sah auf sie, dann auf Camaris, und sein Gesicht war so ernst wie das eines verängstigten Kindes. Endlich raffte er sich auf und humpelte die Treppe hinauf, Josua nach, der bereits in den Schatten verschwunden war.
Camaris setzte sich auf. »Lasst mich aufstehen. Ich will euch nicht wehtun, wer ihr auch sein mögt.« Seine Augen waren auf einen fernen Punkt gerichtet, weit weg von der Vorhalle des Turms. »Es ruft mich.«
Miriamel kroch unter ihm hervor und griff zitternd nach seiner Hand. »Herr Camaris, ich flehe Euch an. Es ist ein böser Zauber, der Euch ruft. Wenn Ihr das Schwert dorthin bringt, wird vielleicht alles zerstört, für das Ihr in Eurem Leben gekämpft habt.«
Der alte Ritter senkte die blassen Augen und sah sie düster an, die Züge zum Zerreißen gespannt. »Sag dem Wind, er soll nicht wehen«, antwortete er heiser. »Sag dem Donner, er soll nicht grollen. Und sag diesem verfluchten Schwert, es soll nicht singen und an mir zerren.« Aber es war, als erschlaffe er, als sei der Ruf für kurze Zeit nicht mehr so mächtig.
Ein wortloser Schrei, als heule ein wildes Tier vor Angst, gellte durch die Vorhalle. Erst jetzt fiel Miriamel Cadrach wieder ein. Sie fuhr herum, um sich zu überzeugen, ob er wie bisher an der Tür kauerte,aber der Mönch heulte ein zweites Mal und deutete mit dem Finger.
Unten vor der Treppe kam Pryrates langsam auf die Füße, unsicher wie ein Trunkenbold. Der Pfeil ragte noch immer vorn und hinten aus seinem Hals. Um das zerfetzte Fleisch spielte ein mattes, fauliges Glühen.
Aber er ist tot! Miriamel wurde übel vor Grauen. Er ist tot! Süße Elysia, Mutter Gottes, ich habe ihn doch getötet!
Der Priester stolperte einen Schritt vorwärts, stöhnte und richtete den Haifischblick auf Miriamel. Seine Stimme war noch schnarrender als sonst. »Du hast … mich … verletzt. Dafür werde ich dich … lange am Leben halten, Mädchen.«
»Tochter der Berge«, sagte Binabik hilflos. Noch immer hielt er die Beine des alten Ritters fest. Camaris saß da und starrte an die Decke. Er achtete nicht auf seine Umgebung und lauschte nur dem, was ihn dort oben rief.
Schwankend griff der Priester in seinen Nacken, packte den schwarzen Schaft knapp unter der Pfeilspitze und brach ihn ab. Aus der Wunde sickerte frisches Blut. Er holte ein paarmal pfeifend Atem, legte die Finger auf die Federn des anderen Endes und zog sich den Rest des Pfeils aus dem Hals, das Gesicht zu einer Grimasse der Qual verzerrt. Einen Augenblick musterte er das blutverschmierte Geschoss, bevor er es verächtlich fortwarf.
»Ein Nakkiga-Pfeil«, krächzte er. »Ich hätte es wissen sollen. Die Nornen schmieden gute Waffen – aber nicht gut genug.«
Die Blutung hatte aufgehört. Aus einem der Löcher in seinem Hals stieg ein dünner Rauchfaden.
Miriamel hatte einen neuen Pfeil aufgelegt und spannte zitternd den Bogen, die schwarze Pfeilspitze auf sein Gesicht gerichtet. »Möge Gott … Euch zur Hölle schicken, Pryrates!« Sie strengte sich an, die Worte hervorzubringen, ohne panisch zu kreischen. »Was habt Ihr mit meinem Vater gemacht?«
»Er ist oben.« Der Priester fing an zu lachen. Er stand jetzt fest auf den Füßen und schien vor Freude über diesen Beweis seiner Macht geradezu heiter, fast berauscht. »Dein Vater wartet. Die Zeit, auf die wir beide gewartet haben, ist da. Ich frage mich, wer sie mehr genießenwird.« Er hob die Finger und
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