Der Engelsturm
aufschlug, umgaben ihn noch immer die hellen, glatten Wände des Treppenhauses im Engelsturm. Er wusste, dass er weitergehen musste, obwohl jede Faser seines Körpers ihn dazu trieb, die Stufen hinabzurennen und zu fliehen. Seine Beine waren so schwach, dass sie unter ihm nachgaben, und so sank er auf die Steine und kroch die letzten Ellen auf Händen und Knien, bis sich sein Kopf über der letzten Stufe in kalten Wind hob und er in die luftige Glockenstube blickte.
Im Dachgewölbe hingen die riesigen Bronzeglocken wie giftgrüne Marschblumen, und tatsächlich strömte der Raum trotz der ständigen Windböen den Geruch fauligen Fleisches aus. Im Mittelpunkt der Stube ragte ein Kranz aus dunklen Säulen zur Decke empor, und auf allen vier Seiten öffneten sich große Bogenfenster dem wirbelnden Schnee und den zornigen, scharlachroten Wolken.
Ein paar Schritte vor Tiamak stand Josua vor dem Nordfenster. Seine Haltung war so steif, als wisse er nicht recht, was er tun und wie er stehen solle. Ihm gegenüber am Fenster saß auf einem einfachen Holzschemel sein Bruder Elias.
Der König trug eine Krone aus dunklem Eisen auf der bleichen Stirn und hielt etwas Langes, Graues in den Händen, das Tiamak irgendwie nicht richtig sehen konnte. Es hatte die ungefähre Form eines Schwertes, entzog sich aber Tiamaks Blick, als wäre es nicht ganz von dieser Welt. Elias war in vollem königlichem Pomp, aber seine Gewänder waren voller Flecke, und wenn der Wind sich in seinem Mantel fing und ihn hob, zeigten sich mehr Löcher als Stoff.
»Es wegwerfen?«, sagte Elias langsam. Seine Augen waren niedergeschlagen, und er antwortete auf das, was Josua vermutlich zu ihm gesagt hatte, so abwesend wie ein Tagträumer. »Es wegwerfen? Aber das könnte ich gar nicht. Jetzt nicht mehr.«
»Aber um Gottes Liebe und Barmherzigkeit willen, Elias!«, bat Josua verzweifelt. »Es bringt dich um! Und es soll noch viel mehr tun – was immer Pryrates dir auch vorgegaukelt haben mag, er plant nur Böses!«
Der König hob den Kopf. Obwohl Tiamak hinter Josua stand und die Schatten im Treppenhaus ihn verbargen, fuhr er voller Grauen zurück. Das rote Licht der Fenster umspielte das blasse Gesicht des Königs. Unter seiner Haut kringelten sich die Muskeln wie Würmer. Aber es waren seine Augen, die Tiamak nur mühsam einen Aufschrei der Angst unterdrücken ließen. Ein düsterer Glanz schwelte darin, ein unmenschliches Licht wie das bleiche Glimmen von Marschkerzen.
»Ädon bewahre uns!«, keuchte Josua.
»Aber das ist nicht Pryrates’ Plan.« Elias verzog die Lippen zu einem so starren Lächeln, dass es aussah, als habe er keine Gewalt mehr über seine Züge. »Ich bin der Hochkönig, vergiss das nicht; alles geschieht nach meinem Willen. Es ist mein Plan. Der Priester hat nur auf mein Geheiß gehandelt, und bald werde ich ihn nicht mehr brauchen. Und du …«, er erhob sich, entfaltete sich mit sonderbar ruckartigen Bewegungen, bis er hoch aufgerichtet dastand und das undeutliche graue Ding mit der Spitze den Boden berührte, »… du warst einmal mein Bruder. Früher.«
»Früher?«, schrie Josua. »Elias, was ist aus dir geworden? Du bist ein Ungeheuer … ein Dämon!« Er trat einen Schritt zurück und wäre beinah in den Treppenschacht gefallen. Dann drehte er Naidels Heft in der bebenden Hand und schlug das Zeichen des Baumes über seiner Brust. Draußen grollte der Donner, und das Licht flackerte, aber der König starrte seinen Bruder nur mit leeren Augen an.
»Ich bin kein Dämon«, erklärte er und schien sorgfältig darüber nachzudenken. »Nein. Aber ich werde bald mehr – sehr viel mehr – sein als ein Mensch. Ich kann jetzt schon fühlen, wie ich mich den Winden öffne, die zwischen den Sternen singen, wie ich zum Nachthimmel werde, an dem Kometen lodern …«
»Möge der Erlöser mir vergeben«, flüsterte Josua. »Du hast recht, Elias. Du bist nicht mehr mein Bruder.«
Die gelassene Miene des Königs verzerrte sich vor Wut. »Undwer ist schuld daran? Seit du ein Kind warst, hast du mich beneidet und dein Bestes getan, mich zu vernichten. Du hast mir meine Frau, meine geliebte Hylissa, genommen, hast sie gestohlen und dem Tod in die Arme getrieben. Seitdem habe ich keine ruhige Minute mehr gehabt.« Er hob die zuckende Hand. »Doch damit nicht genug – nein, du warst nicht zufrieden, mir das Herz aus dem Leib zu reißen, du begehrtest auch noch, was mir rechtmäßig zustand, die Königswürde! Es stimmt doch, dass du nach
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