Der Engelsturm
das?«
Miriamel bemerkte im Augenwinkel eine Bewegung und drehte sich um. Camaris hatte endlich aufgehört, sich zu wehren, und trottete die Treppe hinauf. Schon bald war er im Rund der Wendeltreppe verschwunden. Sie sah ihm mit dumpfer Hoffnungslosigkeit nach. Sie hatten alles getan, was sie konnten, aber es war nicht genug gewesen.
Pryrates ging an Binabik und Miriamel vorbei, um dem alten Ritter zu folgen. Am Fuß der Treppe blieb er stehen und schlug sich auf den Nacken. Dann drehte er sich bedächtig um und betrachtete den Troll, der soeben das Blasrohr absetzte. Pryrates zupfte etwas ab, das hinter seinem Ohr steckte, und untersuchte es. »Gift?«, fragte er. »Du bist Ookequks würdiger Schüler. Er lernte auch immer etwas langsam.«
Er ließ den Dorn zu Boden fallen und zertrat ihn unter seinem schwarzen Stiefel. Dann stieg er die Stufen hinauf.
»Er fürchtet nichts«, wisperte Binabik eingeschüchtert. »Ich weiß nicht …« Er schüttelte den Kopf.
Miriamel starrte dem roten Gewand des Priesters nach, bis es in die Schatten eingetaucht war. Ihr Blick streifte die unseligen, zerstörten Körper von Isorn und seinen Kameraden. Die Flamme ihres Zorns, von Furcht fast ausgelöscht, loderte jäh wieder auf.
»Mein Vater ist dort oben.«
Vor ihnen auf den Steinen lag Cadrach, das Gesicht im Ärmel vergraben, und weinte.
Tiamak eilte die Treppe hinauf.
Alle unsere Berechnungen, unsere klugen Pläne, unsere Hoffnungen, dachte er voller Trauer. Alles umsonst Die Schwerter waren Betrug, sagen sie. Töricht sind wir gewesen, töricht …
Er kletterte weiter und achtete nicht auf den stechenden Schmerz bei jedem Schritt. Er strengte sich an, Josua nicht aus den Augen zu verlieren, einen schlanken, grauen Schatten, der über ihm durch diefast schwarze Dämmerung glitt. Tiamaks Mund war trocken. Etwas wartete am Ende der Treppe.
Der Tod, dachte er. Der Tod, lauernd wie ein Ghant in den Baumwipfeln.
Irgendwo über ihm erscholl wieder die Glocke, ein furchterregender Ton, der ihn schüttelte wie ein zorniger Vater sein Kind. Wieder flackerten Flammen vor seinen Augen, und seine Umgebung selbst schien sich aufzulösen. Es dauerte eine qualvoll lange Zeit, bis er die Stufen vor sich wieder erkennen konnte, und seine schwachen, zitternden Beine taten wieder, was er ihnen befahl. Der Turm … wurde er lebendig? Jetzt, da alles andere im Sterben lag?
Warum hat sie mich geschickt? Was kann ich schon ausrichten? O Du-der-stets-auf-Sand-tritt, ich habe Angst!
Prinz Josua entfernte sich weiter von ihm und war schließlich nicht mehr zu sehen, aber der lahme Wranna kletterte weiter. Kurze Blicke aus den Turmfenstern zeigten ihm auf dem unbekannten Gelände am Fuß des Bauwerks ein brüllendes Chaos. Hoch oben drohte der Erobererstern wie ein zorniges Auge. Der gerötete Himmel war voller Schnee, aber er konnte die undeutlichen Umrisse von Männern erkennen, die über die Mauern schwärmten, kleine Scharmützel auf den Zinnen, Gefechte auf dem freien Platz vor dem Turm. Einen Augenblick schöpfte er Hoffnung, weil er annahm, dass es Herzog Isgrimnur und Josuas Heer sein mussten, die sich den Weg in die Burg erkämpften – bis er sich an Binabiks Worte erinnerte, der Turm sei mit einem Schutzzauber versiegelt. Isgrimnur und seine Leute würden, was immer hier geschah, nicht verhindern können.
Es gab so viele Unklarheiten. Was hatten Miriamel und der Troll wirklich gemeint, als sie von den Schwertern sprachen? Dass irgendein Betrug dabei war, vor allem aber, dass Pryrates und Elias wollten, dass man sie hierherbrachte. Aber warum? Was war ihr Plan? Offenbar musste Utuk’kus Erscheinen unter der Burg etwas damit zu tun haben. Die Sithi hatten gesagt, sie könnten sie hemmen, ihr aber nicht endgültig Einhalt gebieten. Im Teich der Drei Tiefen ruhte eine ungeheure Macht, und Tiamak war überzeugt, dass die Nornenkönigin sie für sich zu nutzen gedachte. Die Sithi hatten sich ihr entgegengestellt, aber es hatte nicht gut für sie ausgesehen.
Tiamak hörte jetzt ganz aus der Nähe Josuas Stimme. Zitternd blieb er stehen. Er fürchtete sich vor den letzten Stufen.
Auf einmal wollte er gar nicht sehen, was der Prinz am Ende der Treppe gefunden hatte. Er kniff die Augen zusammen, so fest es ging, und wünschte sich von ganzem Herzen, er möge in seinem Häuschen im Banyanbaum aufwachen und alles wäre nur ein böser Traum gewesen. Aber das Heulen der rastlosen Winde verstummte nicht, und als er die Augen
Weitere Kostenlose Bücher