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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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der Situation und verließ den statuengesäumten Thron, um eilig die Steinfliesen zu überqueren.
    Die Wandbehänge im Stehraum waren verschwunden, die Treppezum Abtritt nicht mehr verborgen. Simon rannte die Stufen hinauf und zwängte sich durch das schmale Abtrittfenster. In ihm kämpften nervöse Erregung und Angst. Der Zwinger mochte von Bewaffneten wimmeln, aber sie hatten Simon den Geisterknaben vergessen, der auf dem Hochhorst alle Ecken und Winkel kannte. Oder nein, nicht mehr Simon den Geisterknaben, sondern Herrn Seoman, den Bewahrer gewaltiger Geheimnisse!
    Der kalte Wind traf ihn mit der Wucht eines Rammbocks und hätte ihn fast von der Mauer gestoßen. Der Schnee kam von der Seite und brannte ihm in Augen und Gesicht. Simon konnte kaum etwas sehen. Blinzelnd hielt er sich am Fensterschlitz fest. Der Mauervorsprung, auf dem er stand, war nur einen Schritt breit. Zehn Ellen tiefer brüllten gepanzerte Männer aufeinander ein, und Metall klirrte auf Metall. Wer kämpfte hier? Und waren das Riesen, die er von weitem röhren hörte, oder war es nur der Sturm? Es kam ihm vor, als sähe er im Nebel große, weiße, wild um sich schlagende Gestalten, aber er wagte nicht, zu lange und zu scharf auf das zu blicken, was ihn erwartete, wenn er von der Mauer fiel.
    Stattdessen sah er nach oben. Hoch über ihm ragte der Engelsturm auf, der aus dem Gewirr der Dächer emporwuchs wie der Stamm eines weißen Baums, Beherrscher eines uralten Waldes. Wolken ballten sich um sein Haupt, Blitze zerrissen den Himmel.
    Simon ließ sich von seinem steinernen Sims heruntergleiten, bis er die Zwischenmauer erreicht hatte, auf der er sich auf Händen und Knien weiterschob. Schon bald waren seine Finger taub, und er verfluchte das Pech, das ihn die Handschuhe gekostet hatte. An den eiskalten Stein geklammert, versuchte er, dem unablässigen Wind eine möglichst kleine Angriffsfläche zu bieten.
    Usires am Baum! Die Mauer war früher nie so lang gewesen.
    Ihm war zumute, als überquere er auf schmaler Brücke die Abgründe der Hölle. Aus dem Dunst stiegen Schmerzens- und Wutschreie zu ihm auf, aber auch andere, weniger eindeutige Laute, manche davon so gellend, dass er zusammenzuckte und um ein Haar den Halt verloren hätte. Die Kälte war entsetzlich, und der Wind zerrte und riss. Simon ließ die Augen nicht von der schmalen Mauerkrone, bis er das Ende erreicht hatte. Zwischen diesem Punkt unddem Türmchen, das vom dritten Stock des Engelsturms abging, klaffte eine Lücke, so breit, wie Simon hoch war. Er kauerte davor, stemmte sich gegen den Wind und versuchte den Mut zum Sprung zusammenzuraffen. Ein plötzlicher Schwall warf ihn so hart vornüber, dass er fast flach auf der Mauer lag.
    Was soll das, ermahnte er sich, du hast es hundertmal getan.
    Aber nicht im Schneesturm, wandte ein anderer Teil seines Ichs ein.
    Und nicht mit einem Haufen Bewaffneter unter dir, die dich in Stücke hacken, bevor du überhaupt weißt, ob du den Sturz überlebt hast.
    Er verzog das Gesicht vor den Graupeln und steckte die Hände unter die Achseln, um etwas Blut in die Finger zurückzubringen.
    Du trägst die Geheimnisse des Bundes, sagte er zu sich. Morgenes hat dir vertraut. Es war Erinnerung und Beschwörung zugleich. Er tastete nach Hellnagel, um sich zu vergewissern, dass es noch sicher am Gürtel hing – bei seiner Berührung hob sich das leise Lied wie der Rücken einer gestreichelten Katze –, und richtete sich dann vorsichtig so weit auf, dass er geduckt auf der Mauerecke stand. Nachdem er dort einen Moment gefährlich geschwankt und darauf gewartet hatte, dass der Wind wenigstens ein bisschen nachließ, murmelte er ein kurzes Gebet und sprang.
    Der Wind packte ihn in der Luft und warf ihn zur Seite. Er verfehlte seinen Landeplatz und rutschte ins Leere. Aber seine Hand krallte sich in eine der Schießscharten. Ruckartig kam er zum Halt und hing nun über dem Abgrund. Der Wind riss an ihm, und Turm und Himmel über seinem Kopf schienen zu schwanken, als sei die ganze Welt dabei, ihr Unterstes zuoberst zu kehren. Er merkte, wie ihm der Stein unter den feuchten Fingern wegrutschte, und drängte hastig die andere Hand durch den Schlitz. Aber auch das half nicht viel. Seine Beine und Füße baumelten über dem Nichts, und sein Griff wurde schon schwächer.
    Simon versuchte, die starken Schmerzen nicht zu beachten, die durch seine vorher schon gequälten Gelenke rasten. Ebenso gut hätte er wieder am Rad hängen können, gefesselt, die Glieder

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