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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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holte tief Atem und schaute nach oben, wo ein dünner Streifen blutrotes Licht um die Biegung der Treppe sickerte. Dort warteten der Tod und Schlimmeres. Sie wusste, dass sie gehen musste, aber sie wusste auch mit furchtbarer Gewissheit, dass mit dem nächsten Schritt, den sie tat, die Welt, die sie gekannt hatte, enden würde.
    Sie fuhr sich mit der Hand über das verschwitzte Gesicht.
    »Ich bin bereit.«
     
    Dort, wo die Treppe in das darüberliegende Zimmer mündete, pulsierte rauchiges Licht. Draußen grollte der Donner. Miriamel drückte Binabiks Arm und klopfte auf ihren Gürtel und den Dolch, den sie einem von Isorns Männern aus der kalten, steifen Hand genommen hatte. Aus ihrem Reisesack zog sie einen neuen Pfeil und legte ihn lose auf die Sehne. Sie hatte Pryrates schon einmal verletzt – wenn sie ihn schon nicht töten konnte, ließ er sich vielleicht doch im entscheidenden Moment ablenken.
    Sie traten in das blutige Glühen.
    Das Erste, was Miriamel sah, waren Tiamaks dünne Beine. Der Wranna lag regungslos an der Mauer. Sein Gewand hatte sich über die Knie geschoben. Sie unterdrückte einen Aufschrei, schluckte hart und stieg weiter nach oben. Ihr Gesicht hob sich in den stürmischen Wind.
    Hinter den hohen Fenstern ballten sich schwarze Wolken am Himmel, und an ihren ausgefransten Rändern leuchtete das fiebrige Rot des Eroberersterns. Schneeflocken wirbelten wie Asche unter dem Dachstuhl, wo die großen Glocken hingen. Das Gefühl der Erwartung, der Eindruck einer zum Zerreißen gespannten Welt waren sehr stark. Miriamel atmete schwer.
    Sie hörte, wie Binabik neben ihr leise aufstöhnte. Unter den grünhäutigenGlocken kniete Camaris. Seine Schultern zuckten, und er hielt das schwarze Dorn aufrecht vor sich wie einen heiligen Baum. In einiger Entfernung stand Pryrates. Seine Scharlachgewänder wogten im scharfen Wind. Aber Miriamels Aufmerksamkeit galt nicht ihnen.
    »Vater?« Es war kaum mehr als ein Hauch.
    Der König hob den Kopf, eine Bewegung, für die er eine lange Zeit zu brauchen schien. Sein bleiches Gesicht bestand nur noch aus Haut und Knochen, die Augen lagen tief in den Höhlen und glommen wie verdeckte Lampen. Er starrte sie an, und sie fühlte, wie ihr das Herz brach.
    Sie wollte weinen, lachen, auf ihn zulaufen und ihn wieder gesund machen. Ein anderer Teil ihres Ichs schrie bei seinem Anblick auf wie ein Tier in der Falle und wollte diese Missgestalt, die vorgab, ihr Vater zu sein – denn das konnte nicht der Mann sein, der sie aufgezogen hatte –, vernichtet und ins Dunkel gestoßen sehen, dorthin, wo weder seine Liebe noch der Schrecken, der von ihm ausging, ihr etwas anhaben konnte.
    »Vater?« Dieses Mal trug ihre Stimme.
    Pryrates drehte den Kopf nach ihr. Ein Ausdruck des Ärgers zog über sein glänzendes Gesicht. »Seht Ihr? Sie hören nicht auf Euch, Majestät«, sagte er zu Elias. »Immer gehen sie dorthin, wo sie nicht hingehören. Kein Wunder, wenn Euch die Herrschaft zur Last wird.«
    Der König zuckte zornig oder ungehalten die Achseln. Sein Gesicht war schlaff. »Schickt sie weg.«
    »Vater, warte!«, rief seine Tochter und trat einen Schritt auf ihn zu. »Beim allmächtigen Gott, tu das nicht! Ich habe die halbe Welt durchquert, um mit dir zu sprechen. Schick mich nicht weg!«
    Pryrates streckte die Hände aus und murmelte ein paar unhörbare Worte. Plötzlich packte sie etwas Unsichtbares, das am ganzen Körper klebte und brannte, und warf Binabik und sie gegen die Wand. Ihr Reisesack fiel ihr von der Schulter und landete auf dem Boden, wo sich der Inhalt verteilte. Der Bogen flog aus ihrer Hand und außer Reichweite. Sie wehrte sich, aber die unsichtbare Kraft erlaubte nur ein paar träge Zuckungen. Sie konnte sich nicht vomFleck rühren. Neben ihr zappelte Binabik. Auch er hatte keinen Erfolg. Sie waren hilflos.
    »Schickt sie weg«, wiederholte Elias, diesmal zorniger. Seine Augen sahen alles außer ihr.
    »Nein, Majestät«, erwiderte der Priester eindringlich. »Lasst sie bleiben. Lasst sie zuschauen. Von allen Menschen auf der Welt waren es vor allem Euer Bruder«, er deutete auf etwas, das Miriamel nicht sehen konnte, »der leider nichts mehr davon mitbekommen wird, und Eure verräterische Tochter, die Euch zwangen, diesen Weg einzuschlagen.« Er lachte meckernd. »Allerdings wussten sie nicht, dass Ihr auf diesem Weg etwas finden würdet, das Euch noch größer macht, als Ihr schon seid.«
    »Hat sie Schmerzen?«, fragte der König brüsk. »Sie ist

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