Der Engelsturm
seine Brust, und seine Arme wurden taub. Er konnte nur noch einen qualvollen Schrei ausstoßen – für seinen Schmerz, für Josua, für alles, was so furchtbar fehlgeschlagen war –, dann riss der König ihn von sich los und schleuderte ihn fort. Tiamak spürte noch, wie er hilflos über den Steinboden der Glockenstube rutschte, dann krachte etwas gegen seinen Kopf und Hals, und er brach an der Wand zusammen und blieb flach auf der Seite liegen. Tiamak konnte weder sprechen noch sich rühren. Seine ohnehin schon trüber Blick verschwamm vollends, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Plötzlich erfüllte ein gewaltiges Dröhnen den Raum und erschütterte den Boden. Noch heller leuchtete der rote Schein vor den Fenstern, als loderte Feuer um den Turm. Einen Augenblick schlugen die Flammen so hoch empor, dass er sie sehen konnte. Vor ihnen am Fenster stand der feurige Umriss des Königs. Dann war alles verschwunden.
Die Glocke hatte zum dritten Mal geläutet.
32
Der Turm
n der Tür des Thronsaals blieb Simon stehen. Trotz der eigenartigen Ruhe, die er auf seiner Reise durch die Eingeweide des Hochhorsts empfunden hatte, und trotz Hellnagel, das an seiner Hüfte hing, hämmerte ihm das Herz in der Brust. Würde wie im Hjeldinturm der König schweigend im Dunkel auf ihn warten?
Seine Hand senkte sich auf den Schwertgriff, er stieß die Tür auf.
Der Thronsaal war leer, zumindest menschenleer. Zu beiden Seiten des Drachenbeinthrons standen sechs schweigende Gestalten, aber die kannte Simon von alters her. Er trat ein.
Die Banner mit den Wappen, die unter der Decke gehangen hatten, waren heruntergefallen, abgenagt von den Zähnen des Windes, der durch die hohen Fenster strömte. Plattgetretene Tiere und Vögel lagen in wirren Haufen, einige sogar schlaff auf den Knochen des großen Throns ausgestreckt. Simon stieg über einen wasserfleckigen Wimpel; der daraufgestickte Falke blickte mit großen Augen zu ihm auf, wie erschrocken von seinem Sturz vom Himmel. Gleich daneben, zum Teil von anderen, feuchten Bannern verdeckt, erkannte Simon schwarzes Tuch mit einem stilisierten goldenen Fisch. Eine undeutliche Erinnerung stieg in ihm auf.
Draußen nahm der Lärm zu. Simon wusste, dass er sich hier nicht länger aufhalten durfte, aber der Hauch von Erinnerung quälte ihn. Er ging zu den schwarzen Malachitstatuen. Im zuckenden Wetterleuchten schienen sich ihre Züge zu bewegen, und einen Augenblick fürchtete Simon, der Zauber, der die ganze Burg veränderte und verschob, könnte auch die Steinkönige lebendiggemacht haben. Aber zu seiner Erleichterung blieben sie starr und tot.
Er sah auf die Figur, die gleich rechts von der vergilbten Lehne des großen Throns stand. Eahlstan Fiskernes Gesicht war aufwärts gerichtet, als schaue er auf eine Herrlichkeit, die hinter den Fenstern lag, hinter der Burg und allen ihren Türmen. Simon hatte das Gesicht des Märtyrerkönigs oft betrachtet, aber diesmal tat er es mit anderen Augen.
Er ist es, den ich gesehen habe, begriff er plötzlich. In dem Traum, den mir Leleth gezeigt hatte. Er las in dem Buch und wartete auf den Drachen.
Und sie sagte: »Das ist ein Teil deiner Geschichte, Simon.«
Sein Blick fiel auf den dünnen Goldreif an seinem Finger und das darauf eingravierte Fischsymbol. Was hatte ihm Binabik über die Sithi-Inschrift des Ringes erzählt?
Drachen und Tod?
»Der Drache war tot.« Das hatte ihm Leleth an jenem Nicht-Ort zugeflüstert, jenem Fenster in die Vergangenheit.
Und König Eahlstan ist ein Teil meiner Geschichte? War es das, was Morgenes mir anvertrauen wollte, als er mir den Ring schickte? Das größte Geheimnis des Bundes der Schriftrolle – dass sein Gründer Eahlstan und nicht Johan den Drachen erschlug?
Über fünf Jahrhunderte hinweg war Simon Eahlstans Bote. Damit lasteten eine Ehre und ein Vertrauen auf ihm, die er jetzt noch gar nicht fassen konnte, ein Reichtum an Wissen, den er genießen würde, wenn er am Leben blieb, ein kostbares Geheimnis, das ihn und alle, die er kannte, verändern konnte.
Aber Leleth hatte ihm noch etwas anderes gezeigt. Sie hatte ihm das Bild Inelukis erscheinen lassen, in seiner Hand Leid.
Und Inelukis ganze Bosheit galt…
Der Turm! Jäh stand die Gefahr des Augenblicks wieder vor ihm.
Ich muss Hellnagel in den Turm bringen. Ich habe Zeit vergeudet!
Er drehte sich noch einmal um und sah Eahlstan in das steinerne Gesicht. Dann verneigte er sich vor dem Gründer des Bundes, genoss die ganze Seltsamkeit
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