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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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und nach kurzer Zeit konnte er ohne Stütze stehen.
    Er lauschte auf den Wind, der um die Mauern des Turms ächzte, und auf das ferne Schlachtgetümmel. Ein weiteres Geräusch wurde nach und nach lauter. Durch das Treppenhaus hallten Schritte. Simon sah sich ratlos um. Es gab kein Versteck. Er zog Hellnagel aus dem Gürtel und spürte, wie es in seiner Hand bebte und ihn mit Wärme erfüllte, berauschend wie der Jagdwein der Trolle. Einen kurzen Augenblick erwog er, sich tapfer hier aufzubauen, das Schwert in der Hand, um allem Widerstand zu leisten, das die Treppe heraufkam. Aber das wäre natürlich eine große Dummheit gewesen. Schließlich konnte es jeder sein – Soldaten, Nornen, sogar der König oder Pryrates. Nein, Simon musste an das Leben anderer und an das Große Schwert denken, das zur letzten Schlacht gebracht werden sollte; dieser Verantwortung konnte er sich nicht entziehen. Er machte kehrt und eilte lautlos die Stufen hinauf, Hellnagel waagerecht vor sich, damit die Klinge nicht gegen die Steine scharrte und ihn verriet. Jemand hatte die Treppe heute schon betreten: In den Wandhaltern brannten Fackeln und erhellten die Stellen, an denen es keine Fenster gab, mit unruhigem, gelbem Licht.
    Die Treppe wand sich nach oben. Nach ungefähr zwanzig Stufen gelangte er an eine dicke Holztür in der Innenwand. Simon war erleichtert; er konnte sich in dem dahinterliegenden Raum verstecken und, wenn er vorsichtig war, sogar durch das Guckloch oben in der Tür feststellen, wer da hinter ihm herkletterte. Die Entdeckung kam keine Sekunde zu früh. So sehr er sich auch beeilt hatte, die Schritte, die ihm folgten, waren nicht leiser geworden, und als er stehen blieb und die Türklinke zu bewegen versuchte, kamen sie ihm schon recht laut vor.
    Die Tür schwang nach innen. Simon spähte ins Dunkel und glitt hinein. Unter seinen Füßen schien der Boden einzusinken. Er drehte sich um und schob die Tür zu. Als er einen Schritt zurücktrat, damit die Türkante ungehindert an ihm vorbeigleiten konnte, sank sein hinterer Fuß ins Nichts.
    Simon stieß einen leisen Schrei aus und hielt sich am inneren Türgriff fest. Wieder schwang die Tür nach innen und drängte ihn sogarnoch weiter zurück, während er verzweifelt mit dem Fuß nach festem Boden angelte. Panikschweiß machte seine Hand am Türgriff schlüpfrig. Das Fackellicht, das durch die Öffnung drang, zeigte einen Fußboden, der knapp eine Elle über den Türpfosten hinausreichte und sich dann in verfaulte Splitter auflöste. Darunter sah er nur Finsternis.
    Er hatte kaum das Gleichgewicht wiedergefunden und sich mit der anderen Hand wieder auf den restlichen Fußboden hinaufgezogen, als die gewaltige und furchtbare Glocke zum zweiten Mal läutete. Für einen Moment verschwand die Welt ringsum, und der Raum mit dem unvollständigen Fußboden füllte sich mit Licht und tanzenden Flammen. Das Schwert, das er sogar noch festgehalten hatte, als er über dem Nichts baumelte, entsank seiner Hand und stürzte in den Abgrund. Gleich darauf waren die Flammen erloschen, und Simon stand schwankend vor der Abbruchkante. Hellnagel – das Kostbare, das Unvergleichliche, die Hoffnung der ganzen Welt – war in den Schatten der Tiefe verschwunden.
    Die Schritte, die länger nicht mehr zu hören gewesen waren, setzten wieder ein. Simon zog die Tür zu, presste sich mit dem Rücken dagegen und verharrte auf einem schmalen Streifen Holz über leerer Schwärze. Er lauschte. Die Schritte gingen an seinem Versteck vorbei und entfernten sich nach oben. Aber es kümmerte ihn nicht mehr, wer den Turm mit ihm teilte. Hellnagel war verloren.

    Sie waren so hoch. Die Wände des Treppenschachts schienen sich nach innen zu lehnen und über ihr zu schließen wie eine Kehle, die sie gerade verschluckte. Miriamel schwankte. Wenn diese ohrenzerschmetternde Glocke noch einmal läutete, würde sie unzweifelhaft das Gleichgewicht verlieren und fallen. Der Sturz über die Treppen würde lang und schmerzhaft sein.
    »Wir sind fast da«, wisperte Binabik.
    »Ich weiß.« Sie fühlte, dass nur ein kleines Stück über ihnen etwas wartete; ein Zittern lag in der Luft. »Ich weiß nur nicht, ob ich wirklich dorthin gehen kann …«
    Der Troll nahm ihre Hand. »Ich habe auch Angst.« Der Wind war so schrill, dass sie ihn kaum verstehen konnte. »Aber dein Onkel befindet sich dort, und Camaris hat das Schwert hinaufgetragen. Auch Pryrates wird bei ihnen sein.«
    »Und mein Vater.«
    Binabik nickte.
    Miriamel

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