Der Engelsturm
bis zum Zerreißen gedehnt. Aber diesmal gab es einen Weg aus der Folter. Wenn er losließ, wäre es in Sekunden vorbei, und er hätte Frieden.
Aber er hatte zu viel gesehen und zu viel gelitten, um sich mit dem Vergessen abzufinden.
Er reckte sich, bis er es vor Schmerz fast nicht mehr aushalten konnte, und zog sich ein Stückchen höher. Als er die Arme gestreckt hatte, so weit es nur ging, tastete eine Hand sich frei und suchte einen festeren Halt. Schließlich fanden seine Fingerspitzen eine Spalte zwischen den Steinen; wieder zog er sich nach oben. Den zusammengebissenen Zähnen entrang sich ein unwillkürlicher Schmerzensschrei. Der Stein war glitschig; fast wäre er wieder abgerutscht. Aber mit einem letzten Ruck hievte er seinen Oberkörper in die Schießscharte. Die Beine ragten noch heraus.
Ein Rabe, der unter dem Turmkragen Schutz gesucht hatte, starrte ihn mit ausdruckslosen, gelben Augen an. Simon zog sich ein paar Zoll weiter, und der Rabe hüpfte davon, blieb dann stehen, legte den Kopf zur Seite und beobachtete ihn.
Simon zog sich bis zum Turmfenster. Sein einziger Gedanke war, dass er dem eisigen Wind entkommen musste. Seine Arme und Schultern stachen, das Gesicht war von der bitteren Kälte wie versengt. Als er nach dem Sims griff, erfasste ihn plötzlich vom Kopf bis zu den Füßen, ein brennendes Prickeln, das kreuz und quer über seine Haut lief und ihn verrückt machte wie Ameisenbisse. Der Rabe sprang in einer flügelschlagenden Wolke schwarzer Federn in den Himmel, prallte einmal gegen eine Windbö, flatterte dann aufwärts und außer Sicht.
Das Stechen wurde stärker. Simons Glieder zuckten hilflos. Etwas begann ihm die Luft aus den Lungen zu pressen. Simon begriff, dass er mitten in eine Falle gesprungen war, eine Falle, dazu bestimmt, übereifrige Küchenjungen zu fangen und zu töten.
Mondkalb, dachte er. Einmal ein Mondkalb …
Halb kroch er, halb fiel er durch das Turmfenster und landete auf der Treppe. Sofort hörte der erstickende Druck auf. Heftig zitternd und nach Luft ringend lag Simon auf den kalten Steinen. Sein Kopf, vor allem die Drachennarbe auf seiner Wange, pochte. Der Mageninhalt schien ihm bis in die Kehle steigen zu wollen.
Etwas erschütterte den Turm, ein tiefes Läuten wie von einer ungeheuerlichen Glocke, ein Ton, der in Simons Knochen und seinemschmerzenden Schädel nachhallte und nichts glich, das er jemals vernommen hatte. Die Welt war wie umgestülpt.
Schlotternd hielt sich Simon an den Stufen fest. Das waren doch nicht die Turmglocken, dachte er, als die Echos verklungen und seine verstreuten Gedanken wieder vereint waren. Sie haben jeden Tag geläutet, mein ganzes Leben lang. Aber was war das? Was geht hier bloß vor?
Wieder löste sich etwas von seiner Erstarrung, und das Blut strömte an die Stellen zurück, aus denen es geflohen war. Jetzt pochte nicht mehr allein seine Wange. Simon betastete seine Stirn. Über dem rechten Auge zeichnete sich eine Schwellung ab; schon die leichte Berührung ließ ihn den Atem anhalten. Offenbar hatte er sich den Kopf gestoßen, als er sich durch das Fenster auf die Stufen geworfen hatte.
Es hätte schlimmer kommen können, tröstete er sich. Ich hätte beim Sprung auf die Zinne schon mit dem Kopf aufprallen können. Dann wäre ich jetzt tot. Stattdessen bin ich im Turm – in dem Turm, in den Hellnagel gehen muss … gehen will …
Hellnagel!
Zu Tode erschrocken griff er nach unten. Aber er hatte das Schwert nicht verloren. Noch immer hing es, im Gürtel verhakt, an seiner Hüfte. Irgendwann musste es ihn gestreift und geschnitten haben – zwei kleine Schlangen aus geronnenem Blut ringelten sich auf seinem Unterarm. Und er hatte es noch, das war das eigentlich Wichtige.
Das Schwert sang leise zu ihm. Er fühlte es mehr, als dass er es hörte, eine verführerische Lockung, die stärker war als die Schmerzen in seinem Kopf und dem zerschlagenen Körper.
Es wollte nach oben.
Jetzt? Soll ich einfach so hinaufsteigen? Barmherziger Ädon, ich kann gar nicht richtig denken.
Simon richtete sich auf und kroch an den Rand der Treppe. Dort lehnte er sich an die glatte Wand und bemühte sich, die Knoten aus seinen Muskeln zu reiben. Als alle Glieder sich mehr oder weniger wieder so bewegen ließen, wie es sich gehörte, zog sich Simon an der Wand hoch und stand auf. Sofort begann die Welt zu kippen und sich zu drehen, aber er stemmte sich dagegen, die Hände flach gegendas Reliefmuster gepresst, das die Steine bedeckte,
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