Der Engelsturm
allem schuld. Auch wenn er sie nicht getötet hat, wie sie glaubt, kann er ihr den Verstand getrübt haben.
Er sah zu, wie sie mit sichtlichem Vergnügen den Sonnenuntergang betrachtete. Es war, als leuchte ihr Gesicht.
Wie nennen sie diese Menschen doch in Nabban? Heilige Narren. So wirkt sie – wie jemand, der nicht mehr von dieser Welt ist.
»Der Himmel des Himmels ist schöner, als ich ihn mir hätte ausmalen können«, bemerkte Maegwin träumerisch. »Manchmal frage ich mich, ob es unser eigener Himmel ist und wir ihn jetzt nur von der anderen Seite sehen.«
Und sogar wenn es eine Heilung gäbe, fiel Eolair plötzlich ein, was für ein Recht hätte ich, ihr das alles zu nehmen? Der Gedanke war ein Schock, als hätte ihm jemand eiskaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. Sie ist glücklich, zum ersten Mal, seit ihr Vater in den Krieg zog und den Tod fand. Sie isst, sie schläft, sie redet mit mir und anderen … selbst wenn das meiste davon ganz unsinnig ist. Wie könnte es ihr besser gehen, wenn sie wieder zur Vernunft käme – in dieser furchtbaren Zeit?
Natürlich gab es auch auf diese Frage keine Antwort. Eolair holte tief Atem und versuchte die Müdigkeit abzuschütteln, die ihn jedes Mal überfiel, wenn er mit Maegwin zusammen war. Er stand auf, ging zu einer Stelle, an der Schnee schmolz, wusch seinen Napf aus und kehrte dann zu dem Baum zurück, an dem Maegwin saß. Sie blickte über die wogenden Felder aus Gras und grauem Schnee hinüber zum rötlichen Westhimmel.
»Ich gehe jetzt zu Jiriki«, sagte der Graf. »Werdet Ihr Euch hier wohlbefinden?«
Sie nickte. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. »Gewiss, Graf.«
Er neigte das Haupt und verließ sie.
Die Sithi hatten rings um Likimeyas Feuer auf der Erde Platz genommen. Eolair blieb ein Stück entfernt stehen und bewunderte das fremdartige Schauspiel. Obwohl fast ein Dutzend der Schönen im großen Kreis versammelt waren, sprach niemand. Sie blickten einander nur an, und es war, als führten sie eine wortlose Unterredung. Nicht zum ersten Mal spürte der Graf von Nad Mullach, dass sich ihm in abergläubischem Staunen die Nackenhaare sträubten. Was für seltsame Verbündete!
Likimeya trug noch immer ihre Aschenmaske. Schwere Regengüsse waren am Vortag über das dahinziehende Heer niedergegangen, aber sie schienen ihre eigentümliche Gesichtsbemalung nicht beeinträchtigt zu haben, sodass dem Grafen der Verdacht kam, die Fürstin erneuere sie täglich. Likimeya gegenüber saß eine hochgewachsene Sitha mit schmalem Gesicht. Sie war dünn wie ein Priesterstab und hatte das helle, himmelblaue Haar auf dem Scheitel geschürzt wie einen Vogelschopf. Nur weil Jiriki es ihm erzählt hatte,wusste Eolair, dass diese streng blickende Frau, Zinyadu, sogar noch älter war als Likimeya.
Am Feuer hatten sich auch Jirikis rothaariger, stets grüngewandeter Onkel Khendraja’aro und Chekai’so Bernsteinlocken niedergelassen. Das struppige Haar und die ungewöhnlich offenen Züge des Letzteren, den Eolair sogar schon lächeln und lachen gesehen hatte, ließen ihn fast menschlich erscheinen. Rechts und links von Jiriki hockten Yizashi, dessen langer grauer Hexenholzspeer mit sonnengoldenen Bändern umwunden war, und Kuroyi, der alle anderen im ganzen Heer überragte, ob Sitha oder Mann, und ein so blasses und kaltes Gesicht hatte, dass er ohne die kohlschwarzen Haare ein Norne hätte sein können. Die anderen, drei Frauen und zwei Männer, hatte Eolair zwar schon gesehen, kannte jedoch ihre Namen nicht.
Eine Weile stand er so da, fühlte sich unbehaglich und wusste nicht recht, ob er bleiben oder gehen sollte. Endlich schaute Jiriki auf. »Graf Eolair! Wir denken gerade über Naglimund nach.«
Eolair nickte und beugte den Kopf vor Likimeya, die als Erwiderung kurz das Kinn senkte. Von den anderen Sithi schenkte ihm keiner mehr als nur einen kurzen Raubtierblick. »Wir müssen bald dort sein«, sagte der Graf.
»In wenigen Tagen«, stimmte Jiriki zu. »Aber wir Zida’ya sind nicht gewöhnt, gegen eine von Feinden besetzte Burg zu kämpfen – ich glaube, seit jenen letzten furchtbaren Tagen damals in Venyha Do’sae haben wir es nicht mehr getan. Sind unter Euren Männern einige, die Josuas Feste kennen und Erfahrung in solchen Kämpfen haben? Wir haben viele Fragen.«
»In Belagerungskriegen?« Eolairs Stimme klang unsicher. Er hatte angenommen, die so erschreckend tüchtigen Sithi hätten sich längst einen Plan zurechtgelegt. »Nun … ein
Weitere Kostenlose Bücher