Der Engelsturm
wurde.«
Simon sah den Priester lächeln, obwohl Pryrates der Schweiß von der eierschalenglatten Stirn tropfte. »Ihr sollt es haben.« Wieder reckte er die Arme. Simon strengte sich an, bis er glaubte, die Schläfenadernmüssten ihm platzen, aber auch diesmal gelang es ihm nicht, sich von den gekreuzten Schwertern loszureißen. »In der Festung Eures Bruders, Elias«, rief Pryrates, »mitten im Herzen seines Verrates – in Naglimund errichten wir das Vierte Haus!«
Wieder sah Simon hinter den Fensterrahmen den fremdartigen schwarzen Himmel. Der Hochhorst unter dem Fenstersims war zu einem Wald geworden, einem Wald aus bleichen, anmutigen Türmen. Dazwischen loderten Flammen. Das seltsame Bild löste sich nicht auf. Der Hochhorst war verschwunden, ersetzt durch … Asu’a? Simon hörte das Geschrei schriller Sithistimmen und das Prasseln von Feuer.
»Und nun das Fünfte Haus!«, schrie Pryrates.
Diesmal brachte der Klang der Geisterglocke Simon den Anblick von Sturmwolken und wirbelndem Schnee zurück. Die hohe, gellende Qual der Sithi wich den dumpferen Rufen der Sterblichen.
»Im Teich der Drei Tiefen weicht Utuk’ku dem letzten Diener des Sturmkönigs, und unter unseren Füßen wächst das Fünfte und letzte Haus.« Pryrates breitete, die Handflächen nach unten, seine Arme weit aus. Der Turm erbebte in seinen Grundfesten. Über Hellnagels ganze Länge fuhr ein Sog, der durch Simons Arm bis in sein Herz und seine Gedanken reichte, als wollte er sein Innerstes aus ihm herausziehen.
Ihm gegenüber fletschte Camaris in einer Grimasse der Qual die Zähne. Dorn zitterte in seiner Faust.
Aus dem Boden der Glockenstube quoll eisblaues Licht, das knisternd und prasselnd durch den schwarzen Punkt floss, an dem die Schwerter sich berührten. Verzerrt und zu blauen Funken zerstoben, schoss es an die glitzernde Decke. Simons Körper verkrampfte sich, so gewaltig waren die Kräfte, die ihn umspülten und durchdrangen. In seinen zerschlagenen Gedanken jauchzten und jubelten die Schwerter, nun endlich befreit. Simon wollte den Mund öffnen und schreien, aber seine Kiefer waren zusammengepresst, seine Zähne knirschten. Das funkelnde blaue Licht blendete ihn.
»So haben nun die drei Großen Schwerter den Weg zu diesem Ort gefunden, über dem der Erobererstern steht: Leid, Verteidiger Asu’as, Geißel der Lebenden; Dorn, Sternenklinge, Banner des sterbendenImperiums; Hellnagel, letztes Eisen aus dem verschollenen Westen.«
Während Pryrates die drei Namen rief, läutete die große Glocke. Bei jedem Ton schienen sich der Turm und alles um ihn herum zu verschieben; die zierlichen Türme und das Feuer wichen den massigen, verschneiten Dächern des Hochhorsts, nur um beim nächsten hallenden Dröhnen von neuem zu erscheinen.
Simon, von furchtbaren Gewalten ergriffen, fühlte, wie sein Inneres sich verzehrte. Er hasste. Schwelende Wolken der Wut stiegen in ihm auf, Hass, weil man ihn betrogen und seine Freunde ermordet hatte, Hass auf die grausige Verwüstung, die Pryrates und Elias angerichtet hatten. Er wollte das Schwert schwingen, alles Erreichbare zerschmettern, alle töten, die ihn so grausam unglücklich gemacht hatten. Aber er konnte nicht einmal schreien oder sich rühren, nur hilflos zucken. Die Wut, die sich nicht auf gewöhnliche Art entladen konnte, schien stattdessen durch seinen Schwertarm zu fließen. Hellnagel verschwamm vor seinen Augen, wurde zu etwas Unwirklichem, als sei ein Teil der Klinge nicht mehr da; Dorn war ein dunkler Fleck in Camaris’ Hand. In den Augen des alten Mannes sah man das Weiße.
Plötzlich fühlte Simon, wie sein furchtbarer Zorn und die Verzweiflung aus ihm herausbrachen. Die Schwärze an der Stelle, wo die Schwerter sich kreuzten, erweiterte sich, wurde zur endlosen Leere, einem Tor ins Nichtsein, und Simons ganzer Hass strömte hindurch. Die Leere schien die Klinge von Leid hinauf auf Elias zuzukriechen.
»Wir machen uns die große Furcht zu eigen.« Pryrates trat hinter den König, der jetzt ebenso gefangen und hilflos aussah wie die beiden anderen Schwertträger. Der Priester breitete die Arme aus, sodass Elias auf einmal vier Hände zu haben schien. »Überall breitet die Furcht sich aus. Das Meer kocht von Kilpa. Die Ghants kriechen durch die Straßen der südlichen Städte. Tiere aus alten Sagen durchstreifen den Schnee des Nordens. Die Furcht ist überall.
Wir machen uns die große Furcht zu eigen. In allen Ländern kämpft Bruder gegen Bruder. Pest und
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