Der Engelsturm
Verheißungen von Ruhm und Befreiung.
Ich bin Simon, dachte er und konnte fast schon den Trompetenschall hören. Ich habe große Taten vollbracht – einen Drachen getötet! Eine Schlacht gewonnen! Und nun bringe ich das Große Schwert!
Während er weiterging, schimmerten die Stufen unter seinen Füßen, ein Strom aus Elfenbein. Der helle Stein der Treppenhauswand schien von innen heraus zu leuchten. Die himmelblauen Schnitzereien waren so herzzerreißend schön wie Blumen, die man vor die Füße eines Eroberers streut. Vor ihm lag die Vollendung, das Ende aller Schmerzen.
Die Glocke läutete ein viertes Mal, noch gewaltiger als zuvor. Das Echo dröhnte und hallte im Treppenschacht wider. Es schüttelteSimon, wie ein Hund eine Ratte schüttelt. Er stolperte. Ein Schwall eiskalter Luft flutete an ihm vorbei. Die Wandreliefs verschwammen unter einer milchigen Eishaut. Fast hätte Simon das Schwert fallen lassen, als er die Hände an den Kopf riss und aufschrie. Taumelnd griff er nach dem Rahmen eines Turmfensters und suchte dort Halt.
Während er noch schlotternd und stöhnend dastand, verwandelte sich draußen der Himmel. Die breite Wolkenbank verschwand, und es öffnete sich vor Simons Augen die ganze Schwärze eines mit winzigen, kalten Sternen besetzten Himmels, als hätte sich der Engelsturm aus seiner Verankerung gerissen und schwebte jetzt über dem Gewitter. Simon, der beim Klang des verhallenden Echos der Glocke die Zähne zusammengebissen hatte, starrte nach oben. Drei Herzschläge später gerann der schwarze Himmel zu Grau und Rot, und der Sturm heulte von neuem um den Turm.
Etwas berührte seine Gedanken, kämpfte gegen Hellnagels unnachgiebigen Sog.
Das … ist … falsch. Die Freude, die er mit dem Schwert geteilt hatte, das Gefühl, dass er irgendwie alles in Ordnung bringen würde, verflog. Hier geht etwas Böses vor … etwas unendlich Böses!
Aber schon strebte er weiter, die Treppe hinauf, dem matten Glühen zu. Er war nicht mehr Herr über seinen eigenen Körper.
Er wehrte sich. Seine Glieder fühlten sich kalt und fern an. Er verlangsamte den Schritt und schaffte es sogar, stehen zu bleiben, fröstelnd im eisigen Wind, der von oben herunterwehte. Kleine Eisbärte hingen an den Wänden, und sein Atem stand als Wolke über ihm. Aber er spürte, dass irgendwo über ihm eine noch viel größere Kälte lauerte – Kälte, die denken konnte .
Lange Zeit kämpfte er so auf den Stufen, strengte sich an, die Herrschaft über seine eigenen Arme und Beine zurückzuerlangen. Es war ein Kampf gegen Unsichtbares, von niemandem bemerkt als von jener kalten, unmenschlichen Macht. Er spürte ihre hungrige Aufmerksamkeit, als ihm die Schweißperlen auf der Haut froren und klirrend auf die Treppe fielen. Von seinem überhitzten Körper stieg Dampf auf, und wo die Wärme aus ihm wich, drang tödliche Kälte ein.
Endlich ergriff sie ganz von ihm Besitz und füllte ihn aus. Sie bewegte ihn wie eine Stockpuppe. Mit ruckartigen Schritten stolperte er weiter und schrie dabei lautlos aus dem Gefängnis seines Schädels.
So trat er vom Treppenhaus in die dunstige Glockenstube. Die eisbedeckten Wände glitzerten und funkelten. Sturmwolken umbrausten die hohen Fenster, und Licht und Schatten wechselten so träge, als hätte die Kälte auch sie gelähmt.
An der Tür standen Miriamel und Binabik und zappelten so langsam wie Fliegen im zähen Bernstein. Simon starrte sie an und sein Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen. Aber er konnte nicht rufen oder auch nur seine Füße zum Stehen bringen. Miriamel öffnete den Mund und gab einen erstickten Laut von sich. Simon kamen die Tränen. Einen Augenblick zog ihn ihr blasses Gesicht an wie eine Lampe in einem dunklen Zimmer; aber das, was ihn festhielt, ließ ihn nicht los. Es riss ihn an seinen Freunden vorbei wie eine Flussströmung und zerrte ihn zu dem Säulenkranz in der Mitte des Raums.
Unter den bereiften Glocken warteten drei Gestalten. Eine davon kniete. Das, was sich von Hellnagel in ihm festgesetzt hatte, tanzte und sprang … aber das, was noch Simon war, schlotterte vor Angst, als sich jetzt Elias zu ihm umdrehte. Sein Gesicht war das Gesicht eines Toten. Das gefleckte graue Schwert in seinen beiden Fäusten lag über dem schwarzen Dorn, und wo sie einander berührten, war Nichts, eine Leere, die Simons Geist schmerzen ließ.
Zitternd blickte Camaris zu Simon auf. Seine Haare und Brauen waren mit Eis überpudert. Die Augen des alten Mannes starrten ihn
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