Der Engelsturm
Simon schwankte der Boden. Die Ohren wollten ihm platzen. Er starrte auf die Bronzeglocken, die über ihm hingen, aber sie bewegten sich nicht. Stattdessen wurde ein geisterhafter Umriss sichtbar, die Gestalt einer Glocke, aber lang und röhrenförmig. Als sie von neuem ertönte, sah Simon Feuer vor den Fenstern und einen endlosen, schwarzen Himmel.
Als das Dröhnen verhallt war, hob Pryrates die Hände. »Sie hat gesiegt. Es ist Zeit.«
Der König senkte das Haupt. »Gott helfe mir, ich habe lange auf diesen Moment gewartet.«
»Euer Warten ist zu Ende.« Der Priester kreuzte die Arme vor seinem Gesicht und ließ sie wieder nach unten fallen.
»Utuk’ku hat den Teich der Drei Tiefen in ihre Gewalt gebracht. Die Schwerter sind hier und warten nur auf die Worte des Widerrufs, die lösen, was sie bindet. Dann wird die Kraft, die in ihnen gefangen war, befreit ihr Lied singen und Euch alle Eure Wünsche erfüllen.«
»Unsterblichkeit?«, fragte Elias, schüchtern wie ein Kind.
»Unsterblichkeit. Ein Leben, das die Sterne überdauert. Ihr suchtet Eure tote Gemahlin, Majestät, aber Ihr habt weit Größeres gefunden.«
»Sprecht nicht … sprecht nicht von ihr.«
»Freut Euch, Elias, und trauert nicht!« Pryrates legte die Handflächen aneinander, und vor den hohen Fenstern zerkratzten Blitze den Himmel. »Ihr habt befürchtet, keinen Erben zu haben, als Eure ungehorsame Tochter entlief – nun werdet Ihr selbst Euer Erbe sein. Ihr werdet niemals sterben.«
Elias hob den Kopf. Seine Augen waren geschlossen, als bade er in wärmender Sonne. Sein Mund zuckte.
»Niemals sterben«, flüsterte er.
»Ihr habt mächtige Freunde gewonnen, und in dieser Stunde werden sie Euch für all Euer Leid belohnen.«
Pryrates trat zurück und stieß den roten Ärmel gegen die Decke. »Ich rufe das Erste Haus!«
Wieder erscholl die große, unsichtbare Glocke, krachend wie der Hammer einer Götterschmiede. Flammen durchbrausten die Glockenstube und hüpften über die Eiswände. »Auf dem Thisterborg, bei den uralten Steinen«, intonierte Pryrates, »wartet einer der Roten Hand. Für seinen Meister und Euch greift er nach der Macht dieses Ortes und öffnet einen Spalt ins Dazwischen. Er enthüllt das erste der A-Genay’asu’e, und es entsteht das Erste Haus.«
Simon fühlte das Kalte und Schreckliche, das da wartete, stärker werden. Irgendwie umringte es den ganzen Engelsturm und kam dabei immer näher, einem Raubtier ähnlich, das im Dunkeln lautlos auf ein Lagerfeuer zuschleicht.
»In Wentmünd«, rief Pryrates, »auf den Klippen über dem endlosen Ozean, dort, wo für die Seefahrer aus dem verschollenen Westen einst das Hayefur brannte, wird nun das Zweite Haus errichtet. Der Diener des Sturmkönigs befindet sich dort, und eine neue, größere Flamme steigt zum Himmel auf.«
»Nein … nicht …« Binabik, noch immer von Pryrates’ Zauber gefesselt, versuchte sich von der Wand loszureißen. Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne. »Nein … nicht …«
Der Priester schnippte mit den Fingern, und der Troll zappelte hilflos und verstummte.
Wieder läutete die Glocke, und ihre Kraft schien kein Ende zu nehmen, ein ewiger Widerhall. Simon hörte von draußen Stimmen, Schmerzens- und Angstschreie in der Sprache der Sithi. Rotes Licht flackerte in den Eiszapfen am Deckengewölbe der Glockenstube.
»Über dem Hasutal, am uralten Klagestein, dort, wo die Ältesten vor der Ältesten einst unter längst erloschenen Sternen tanzten, entsteht das Dritte Haus. Der Diener des Sturmkönigs dort lässt eine weitere Flamme zum Himmel lodern.«
Elias wankte plötzlich einen Schritt nach vorn. Leids Klinge senkte sich, verlor jedoch nicht den Kontakt mit den anderen Klingen. »Pryrates!«, keuchte der König. »Etwas … etwas brennt in mir …!« »Vater!« Miriamels Stimme war ganz leise, aber ihr Gesicht vor Entsetzen verzerrt.
»Weil es Zeit ist, Majestät«, antwortete der Alchimist. »Ihr verändert Euch. Eine reine Flamme muss Eure Sterblichkeit verzehren.« Er deutete auf die Prinzessin. »Schaut hin, Elias! Seht Ihr, was Eure Schwäche Euch antut? Seht Ihr, was diese geheuchelte Liebe Euch einbringen würde? Sie möchte Euch zu einem alten Mann machen, der um seine Mahlzeiten winselt und das Bett nässt!«
Der König richtete sich auf und drehte Miriamel den Rücken zu.
»Ich lasse mich nicht aufhalten«, knirschte er; die Worte schienen ihm schwerzufallen. »Ich … will … haben … was … mir … versprochen …
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