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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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dort umherzuirren, während die Menschen an der Oberfläche wieder zu einem einigermaßen geregelten Leben zurückkehrten. Gute Menschen in Erchester hatten ihr aus ihren eigenen mageren Vorräten zu essen und ein Obdach für die Nacht gegeben. Den ganzen Abend hatte sie sich dann Geschichten von Prinzessin Miriamel und dem Helden Schneelocke angehört, dem jungen Kriegerfürsten mit der Drachennarbe. Vielleicht, so hatte sie überlegt, konnte sie den neuen Herrschern ihre Dienste anbieten, wenn die Lage sich wieder beruhigt hatte. Eine junge Frau wie Miriamel, wenn sie richtig erzogen war, würde bestimmt einsehen, wie wichtig es war, die Dinge in Ordnung zu halten. Rachel glaubte zwar nicht, dass sie je wieder mit ganzem Herzen bei der Arbeit sein würde, aber sie war überzeugt, dass sie trotzdem etwas leisten konnte. Sie war alt, aber sie konnte sich bestimmt noch nützlich machen.
     
    Rachel der Drache blickte auf. Während ihre Gedanken umherschweiften, hatte sie ihre Füße an den Rand des Platzes der Schlachten getragen, auf dem ein Freudenfeuer loderte. Man hatte aus den kargen Vorräten das Beste gemacht und in der Mitte des Platzes eine Art Festbankett aufgebaut. Was von den Bürgern der Stadt Erchester noch vorhanden war, hielt sich dort auf, schrie, sang und tanzte um das Feuer. Der Lärm war ohrenbetäubend. Rachel nahm voneiner jungen Frau ein Stück Dörrobst an und zog sich in eine dunkle Ecke zurück, um es zu verspeisen. Sie setzte sich an eine Ladenmauer und sah dem Treiben zu.
    Ein junger Mann kam an ihr vorbei. Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Er war dünn und hatte ein trauriges Gesicht. Rachel kniff die Augen zusammen. Etwas an ihm kam ihr bekannt vor.
    Ihm schien es genauso zu gehen, denn er fuhr herum und ging zu ihr zurück. »Rachel?«, fragte er. »Seid Ihr nicht Rachel, die Oberste der Kammerfrauen?«
    Sie sah ihn an, aber es fiel ihr kein Name ein. Ihr Kopf war voll vom Geschrei der Leute auf den Dächern, die zu ihren Freunden auf dem Platz hinunterriefen. »Das bin ich«, erwiderte sie. »Und das andere, das war ich.«
    Plötzlich stand er so dicht vor ihr, dass sie ein wenig erschrak, und umarmte sie. »Erinnert Ihr Euch nicht an mich? Ich bin Jeremias, der Wachszieherlehrling! Ihr habt mir geholfen, aus der Burg zu fliehen.«
    »Jeremias!« Sie klopfte ihm sanft auf den Rücken. Also hatte er überlebt. Das war gut. Sie freute sich. »Natürlich.«
    Jeremias trat zurück und sah sie an. »Wart Ihr die ganze Zeit hier? Niemand in Erchester hat Euch gesehen.«
    Rachel schüttelte leicht überrascht den Kopf. Warum sollte jemand auch nach ihr suchen? »Ich hatte eine Kammer … einen kleinen Raum, den ich zufällig fand. Unter der Burg.« Sie wusste nicht, wie sie alles erklären sollte, und hob ratlos die Hände. »Ich habe mich versteckt und bin erst jetzt herausgekommen.«
    Grinsend griff Jeremias nach ihrer Hand. »Kommt mit. Es gibt ein paar Menschen, die Euch sehen möchten.«
    Widerstrebend, obwohl sie selbst nicht recht wusste, wieso – schließlich hatte eine alte Frau wie sie nichts Besseres vor –, ließ sich Rachel durch die wimmelnde Menge quer über den Platz führen. Jeremias zog so sehr an ihr, dass sie ihn schon auffordern wollte, loszulassen. Sie kamen so dicht am großen Feuer vorbei, dass sie die Hitze bis in ihre kalten Knochen spürte. Gleich darauf hatten sie sich durch ein weiteres Menschenknäuel gedrängt und näherten sich einer Reihe gepanzerter Soldaten, die sie mit gekreuzten Spießenzurückhielten, bis Jeremias dem Hauptmann etwas ins Ohr flüsterte. Sofort ließen die Posten sie passieren. Rachel hatte gerade noch genügend Kraft, um sich zu wundern, was Jeremias wohl gesagt haben mochte, aber zu wenig Atem, um ihn zu fragen.
    Plötzlich blieben sie stehen. Jeremias ging an ihr vorbei auf eine junge Frau zu, die im ersten von zwei hohen Stühlen saß. Als er auf sie einsprach, sah die Frau Rachel an und fing langsam an zu lächeln. Die Oberste der Kammerfrauen starrte sie gebannt an. Das war doch Miriamel, die Tochter des Königs – aber sie wirkte so viel älter. Und sie war schön. Das blonde Haar wellte sich um ihr Gesicht und schimmerte im Feuerschein. Sie sah wirklich jeden Zoll wie eine Königin aus.
    Rachel fühlte eine Art Dankbarkeit in sich aufsteigen. Vielleicht würde das Leben doch wieder eine gewisse Ordnung bekommen, wenigstens allmählich. Aber was konnte Miriamel, dieses strahlende Geschöpf, erhaben wie ein Engel, von

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