Der Engelsturm
auch die üblen Zeiten nicht. Das Gedächtnis ist die größte aller Gaben.«
Viele andere, von denen einige bleiben wollten, um beim Wiederaufbau von Erchester und dem Hochhorst zu helfen, während andere schon bald in ihre eigenen Städte zu ihren Landsleuten zurückkehren wollten, drängten nun herbei. Die Sithi nahmen von allen feierlich und freundlich Abschied.
Aus der Menge, die die Unsterblichen umringte, löste sich Isgrimnur. »Ich werde noch eine Weile bei Euch bleiben, Simon, Miriamel, auch nachdem Gutruns Schiff aus Nabban eintrifft. Aber bevor es Sommer wird, brechen wir nach Elvritshalla auf.« Er schüttelte den Kopf. »Dort wartet ein gottloser Haufen Arbeit auf uns. Meinem Volk ist wirklich allzu übel mitgespielt worden.«
»Ohne Euch könnten wir hier gar nicht anfangen, Onkel Isgrimnur«, versicherte Miriamel. »Bleibt, solange Ihr könnt, und wir werden Euch alles mitgeben, was Euch zu Hause helfen kann.«
Der Herzog schloss sie in seine breiten Arme und hob sie in die Luft. »Ich freue mich so für Euch, Miriamel, mein Kind. Ich kam mir wie ein verdammter Verräter vor.«
Sie klopfte ihm auf den Arm, bis er sie wieder absetzte. »Ihr wolltet tun, was für alle am besten war, oder was Ihr dafür hieltet. Aber Ihr hättet trotzdem zu mir kommen sollen – es war töricht von Euch. Ich wäre mit Freuden zurückgetreten, für Simon, für Euch und sogar für Qantaqa.« Sie lachte und drehte sich im Kreis, dass ihr Kleid flog. »Aber nun bin ich glücklich, Onkel. Nun kann ich endlich etwas tun. Wir werden alles wieder in Ordnung bringen.«
Ein melancholisches Lächeln umspielte Isgrimnurs bärtigen Mund. »Davon bin ich überzeugt. Gott segne Euch«, flüsterte er.
Gellend riefen Trompeten, und ein Raunen ging durch die Menge. Die Sithi stiegen zu Pferd. Simon drehte sich um und hob die Hand. Miriamel schob sich unter seinen Arm und drückte sich an ihn. Jiriki, an der Spitze des Heerzugs, hob sich in den Bügeln und schwenkte den Arm. Wieder erschollen die Trompeten und die Sithi ritten los. Das Licht der untergehenden Sonne schimmerte auf ihren Rüstungen, während die Pferde immer schneller wurden. Gleich darauf war nur noch eine bunte Wolke zu sehen, die über den Hang nach Westen wehte. Liedfetzen hingen im Wind. Simons Herz schlug voll Freude und Trauer in seiner Brust, und er wusste, dass er diesen Anblick nie vergessen würde.
Nach einer langen und ehrfürchtigen Stille begann sich die Menge zu zerstreuen. Simon und seine Begleiter gingen hinunter nach Erchester. Dort hatte man auf dem Platz der Schlachten ein großes Freudenfeuer angezündet, und die so lange verlassenen Straßen waren bereits wieder voller Menschen. Miriamel blieb zurück, um mit Isgrimnur zu sprechen, und passte ihren Gang seinen langsameren Schritten an. Simon fühlte, dass etwas seine Hand berührte, und sah nach unten. Dort stand Binabik, an seiner Seite Qantaqas grauen Schatten.
»Ich habe mich schon gefragt, wo du warst«, meinte Simon.
»Mein Lebewohl habe ich dem Sithivolk am Morgen gesagt. Darum wandelten Qantaqa und ich am Saum des Kynswaldes. Einige Eichhörnchen, die dort wohnten, beschlossen ihr Leben traurig, aber Qantaqa empfindet viel Fröhlichkeit.« Der Troll grinste. »Ach, Simon-Freund, ich dachte an Doktor Morgenes und das stolze Gefühl in seinem Herzen, wenn er dies alles sähe.«
»Eigentlich war er es, der uns alle gerettet hat.«
»Gewiss ist, dass sein Planen uns den einzigen Ausweg zeigte. Pryrates und der Sturmkönig betrogen uns, aber hätte Morgenes uns nicht gewarnt, wären die Verwüstungen durch Elias’ Hand noch weit schrecklicher ausgefallen. Auch hätten die Schwerter andere Träger gefunden, und es hätte keinen Widerstand im Turm gegeben. Nein, Morgenes konnte nicht alles wissen, aber was er getan hat, hätte kein anderer tun können.«
»Er versuchte, es mir zu sagen. Er wollte uns alle vor den falschen Boten warnen.« Simon sah die Mittelgasse hinunter, betrachtete die umhereilenden Menschen, das flackernde Feuer. »Erinnerst du dich an meinen Traum in Geloës Haus? Ich weiß, dass er da war. Dass er … über mich wachte.«
»Ich weiß nicht, was geschieht, wenn wir sterben«, meinte Binabik sinnend. »Doch denke ich, dass du recht hast. Irgendwie hat Morgenes dich behütet. Du warst wie ein Sohn für ihn, wichtiger noch als der Schriftrollen-Bund.«
»Er wird mir immer fehlen.«
Sie gingen wortlos nebeneinanderher. Drei Kinder rannten vorbei, von denen eines
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