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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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hohe Gestalt am Ende der Tafel schob die Kapuze zurück und enthüllte eine Schneewehe weißen Haares und ein Gesicht voller Trauer und Güte.
    »Was zur …?« Der Baron war vollständig verwirrt.
    »Ketzerei!«, schrie ein verstörter Gutsbesitzer und kam stolpernd auf die Füße. »Camaris ist tot!«
    Eine der noch anwesenden Frauen kreischte. Der Mann neben ihr fiel in trunkener Ohnmacht vornüber auf die Tafel.
    Camaris legte die Hand auf die Brust. »Ich bin nicht tot. Vergebt mir, Baron, dass ich Eure Gastfreundschaft so missbraucht habe.«
    Seriddan starrte die Erscheinung an und fuhr dann zu Josua herum.
    »Was soll dieser Wahnsinn? Wollt Ihr mich verhöhnen, Erkynländer?«
    Der Prinz schüttelte den Kopf. »Es ist kein Hohn, Seriddan. Dieser Mann ist Camaris. Ich hatte vor, ihn Euch allein vorzustellen, aber Ihr gabt mir keine Gelegenheit dazu.«
    »Nein.« Seriddan schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich kann es nicht glauben. Camaris-sá-Vinitta ist tot – vor Jahren verschollen, ertrunken in der Bucht von Firannos.«
    »Ich verlor nur den Verstand, nicht das Leben«, erklärte der alte Ritter ernst. »Jahrelang lebte ich ohne Erinnerung an meinen Namen und meine Vergangenheit.« Er strich sich mit der Hand über dieStirn, und seine Stimme bebte. »Manchmal wünsche ich, ich hätte beides nicht wiedergefunden. Aber es ist so gekommen. Ich bin Camaris von Vinitta, der Sohn des Benidrivis. Und wenn es meine letzte Tat ist: Ich werde den Tod meines Bruders rächen und seinen Mörder, meinen Neffen, von Nabbans Thron stürzen.«
    Der Baron war sichtlich erschüttert, schien aber trotzdem nicht überzeugt. Sein Bruder Brindalles sagte: »Lass nach Eneppa schicken.«
    Seriddan blickte auf, und seine Augen glänzten, als hätte man ein über ihn verhängtes Todesurteil aufgehoben. »Ja!« Er rief einen seiner Bewaffneten. »Hol Eneppa aus der Küche. Und wenn dir dein Leben lieb ist, sag ihr kein Wort, von dem, was hier geschehen ist.«
    Der Mann ging. Isgrimnur, der ihm nachsah, bemerkte, dass der kleine Pasevalles nicht mehr an der Tür stand.
    Die an der Tafel Sitzenden tuschelten aufgeregt miteinander, aber Seriddan achtete nicht länger darauf. Während er darauf wartete, dass sein Bote zurückkam, stürzte er einen frischen Pokal Wein hinunter. Selbst Josua, als hätte er etwas ins Rollen gebracht, das sich nun nicht mehr aufhalten ließ, gestattete sich, seinen Kelch zu leeren. Camaris war am Ende der Tafel stehen geblieben, ein Bild eindrucksvoller Gelassenheit. Niemand im Saal konnte lange den Blick von ihm wenden.
    Dann erschien der Bewaffnete wieder, begleitet von einer alten Frau. Sie war klein und dick, hatte kurzgeschnittenes Haar und trug ein einfaches dunkles Kleid voller Mehl- und anderer Flecke. Ängstlich trat sie vor Seriddan, als fürchte sie, bestraft zu werden.
    »Hab keine Angst, Eneppa«, sagte der Baron, »du hast nichts falsch gemacht. Siehst du den alten Mann dort?« Er deutete auf Camaris. »Geh hin, schau ihn dir an und sag mir, ob du ihn kennst.«
    Die alte Frau näherte sich vorsichtig Camaris, sah zu ihm auf und fuhr erschrocken zurück, als er ihren Blick erwiderte.
    »Nein, Gebieter«, erklärte sie endlich in unbeholfenem Westerling.
    »Aha.« Seriddan kreuzte die Arme über der Brust und lehnte sich mit einem zornigen kleinen Lächeln zurück.
    »Einen Augenblick noch«, sagte Josua. »Eneppa, wenn das deinName ist, dieser Mann ist niemand, den du in letzter Zeit gesehen hast. Wenn du ihn je kanntest, war es vor vielen Jahren.«
    Sie wandte ihr verschüchtertes Kaninchengesicht von ihm ab und wieder Camaris zu. Zuerst schien es, als wolle sie sich genauso schnell von ihm abwenden wie beim ersten Mal, aber plötzlich war es, als falle ihr etwas auf. Sie starrte ihn an, und ihre Augen wurden immer größer. Auf einmal gaben ihre Knie nach, und sie brach zusammen. Schnell wie ein Gedanke fing Camaris sie auf und stützte sie.
    »Ulimor Camaris?«, fragte sie auf Nabbanai und brach in Tränen aus. »Veveis?« Ein Wortschwall in derselben Sprache folgte. Seriddans zorniges Lächeln verschwand und machte einer Miene fast komischer Verblüffung Platz.
    »Sie sagt, man hätte ihr erzählt, ich sei ertrunken«, erklärte Camaris. »Kannst du Westerling sprechen, gute Frau? Es gibt hier Menschen, die dich nicht verstehen.«
    Er richtete sie auf und ließ sie dann los. Eneppa starrte ihn immer noch an. »Er … es ist Camaris. Duos preterate! Sind … sind denn die Toten

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