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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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den Helm ab und stellte ihn neben sich auf den Tisch. »Wie ist dein Name?«
    »P-Pasevalles.«
    »Ich werde den Helm tragen, Pasevalles. Es ist eine Ehre für mich. Meine eigene Rüstung hat der Rost schon vor Jahren zerfressen.«
    Der Junge sah aus, als sei er in eine andere Welt entrückt. Seine Augen strahlten wie Kerzenflammen. Isgrimnur, der ihn ansah, empfand jähe Trauer. Was konnte das Leben nach diesem Augenblick, diesem Erlebnis echter Ritterschaft, einem so begierigen Kind außer Enttäuschungen noch bieten?
    Gott segne dich, Pasevalles, dachte der Herzog. Ich wünsche dir viel Glück im Leben, aber ich fürchte, du wirst es nicht bekommen.
    Prinz Josua, der den Vorgang beobachtet hatte, ergriff jetzt das Wort. »Es gibt noch anderes, das Ihr wissen müsst, Baron Seriddan. Manches wird Euch erschrecken, anderes wütend machen. Ich habeEuch Dinge zu berichten, die noch erstaunlicher sind als die Tatsache, dass Camaris lebt. Möchtet Ihr, dass ich damit bis morgen warte? Oder wollt Ihr uns immer noch einsperren?«
    Seriddan runzelte die Stirn. »Lasst das. Verspottet mich nicht, Josua. Ihr sollt mir sagen, was ich wissen muss, und es kümmert mich nicht, ob wir hier noch sitzen, wenn der Hahn kräht.«
    Er klatschte in die Hände nach mehr Wein und schickte, bis auf einige wenige, seine verwirrten und staunenden Gefolgsleute nach Hause.
    Ach, Baron, dachte Isgrimnur, schon bald werdet Ihr mit uns in der Tinte sitzen. Ich hätte Euch etwas Besseres wünschen mögen.
    Der Herzog von Elvritshalla zog seinen Stuhl näher an den Tisch, und Josua begann zu sprechen.

7
Weißer Baum, schwarze Frucht

    uerst sah es aus wie ein Turm oder ein Berg – etwas so Hohes, Schlankes, eintönig flaches Weißes konnte doch unmöglich ein lebendiges Wesen sein? Doch als sie näher kam, erkannte sie, dass das, was ihr als riesige Wolke erschienen war, die den Schaft in der Mitte unbestimmt, milchig und blass umhüllte, in Wirklichkeit aus einem unendlich komplizierten Gewirr von Ästen bestand. Was da vor ihr stand, war ein Baum, ein gewaltiger, weißer Baum, der so hoch aufragte, dass sie seinen Wipfel nicht sehen konnte – er wirkte hoch genug, den Himmel zu durchbohren. Überwältigt von seiner furchteinflößenden Erhabenheit starrte sie ihn an. Obwohl ein Teil von ihr wusste, dass sie träumte, begriff Miriamel, dass dieser ungeheure Streifen Weiß von großer Bedeutung war.
    Als sie sich weiter auf ihn zubewegte – sie hatte keinen Körper; lief sie? Flog sie? Sie konnte es nicht sagen –, merkte sie, dass der Baum als einzelner, glatter Schaft aus dem öden Grund emporstrebte, wie eine Säule aus unregelmäßigem, aber tadellos poliertem Marmor. Wenn dieser elfenbeinfarbene Riese Wurzeln besaß, so saßen sie tief, tief im Boden, verankert im innersten Herzen der Erde. Die Äste, die den Baum umgaben wie ein Mantel aus abgetragenen Spinnweben, waren schon dort schlank, wo sie dem Stamm entwuchsen, und wurden auf ihrem Weg nach außen immer schmaler. Ihre ineinander verschlungenen Spitzen waren so dünn, dass sie am Ende im Unsichtbaren verschwanden.
    Jetzt hatte Miriamel den Riesenbaum fast erreicht. Sie begann aufzusteigen, schwebte mühelos in die Lüfte. Der Stamm floss an ihr vorüber wie ein Strom aus Milch.
    Durch die große Wolke der Äste flog sie nach oben. Über den ineinander verwobenen Fäden aus Weiß stand der Himmel graublau und flach. Es gab keinen Horizont. Die Welt schien nur noch aus diesem Baum zu bestehen.
    Das Netz der Äste wurde dichter. Hier und dort hingen in den Zweigen verstreut kleine, dunkle Kerne, Klumpen von Schwärze, wie das Gegenteil von Sternen. Langsam wie Schwanenflaum in einem leichten Windstoß schwebte Miriamel darauf zu, streckte die Hand aus – plötzlich besaß sie Hände, obwohl der Rest ihres Körpers immer noch seltsam abwesend war – und berührte eines der schwarzen Gebilde. Es hatte die Form einer Birne, war jedoch glatt und prall wie eine reife Pflaume. Sie strich über ein anderes und fand es ganz ähnlich. Das Nächste, das ihre Finger streiften, fühlte sich ein wenig anders an. Unwillkürlich griff Miriamel fester zu, und das Gebilde löste sich und fiel in ihre Hand.
    Sie betrachtete ihre Beute. Sie war so straff wie die anderen, aber aus irgendeinem Grund fühlte sie sich nicht so an. Möglicherweise war sie etwas wärmer. Miriamel hätte nicht sagen können, warum, aber sie wusste, dass das Gebilde vollendet – dass es reif war.
    Noch während sie es

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