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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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anschaute und die Fäden des weißen Baumes überall um sie herum endlos tief abfielen, erbebte die schwarze Frucht und platzte. Tief in ihr Herz geschmiegt, dort, wo ein Pfirsich seinen Kern versteckt hätte, lag ein Kind, kaum größer als Miriamels Finger. Seine Augenlider, winzig wie Schneeflocken, waren schlafend geschlossen. Es strampelte und gähnte, öffnete jedoch die Augen nicht.
    Also ist jede dieser Früchte eine Seele, dachte sie. Oder vielleicht nur eine … Möglichkeit? Sie war nicht sicher, was diese Traumgedanken bedeuteten, aber gleich darauf überkam sie eine Woge von Furcht. Aber ich habe sie abgerissen! Zu früh gepflückt! Ich muss sie wieder am Baum befestigen!
    Noch immer zog sie etwas nach oben, aber jetzt hatte sie auf einmal schreckliche Angst. Sie hatte ein großes Unrecht begangen. Sie musste zurück, musste im vieltausendfachen Astgewirr den einen Ast wiederfinden. Vielleicht war es noch nicht zu spät, zurückzugeben, was sie ahnungslos gestohlen hatte.
    Hastig griff sie in das Gestrüpp der Äste und versuchte, ihren Aufstieg zu bremsen. Ein paar Zweige, dünn und spröde wie Eiszapfen, zerbrachen ihr unter den Händen, wieder lösten sich schwarze Früchte und stürzten taumelnd hinab in die grauweiße Tiefe.
    Nein! Die Prinzessin war außer sich. Sie hatte diesen Schaden nicht verursachen wollen. Sie streckte die Hand nach einer der fallenden Früchte ausund ließ dabei das winzige Kind los. Verzweifelt griff sie danach, konnte es aber nicht mehr erreichen.
    Miriamel stieß einen lauten Klageruf aus, voller Verzweiflung und Entsetzen …
     
    Es war dunkel. Jemand hielt sie fest, drückte sie eng an sich.
    »Nein!«, keuchte sie. »Ich habe es fallen lassen!«
    »Ihr habt nichts fallen lassen«, beruhigte die Stimme. »Ihr habt nur schlecht geträumt.«
    Miriamel strengte ihre Augen an, konnte jedoch das Gesicht nicht erkennen. Die Stimme … sie kannte die Stimme. »Simon?«
    »Ich bin hier.« Er legte seinen Mund ganz dicht an ihr Ohr.
    »Ihr seid in Sicherheit. Aber Ihr solltet besser nicht mehr so schreien.«
    »Es tut mir leid. So leid.« Sie schauderte und löste sich langsam aus seinen Armen. In der Luft lag ein starker, feuchter Geruch, und ihre Finger berührten etwas Kratziges. »Wo sind wir?«
    »In einer Scheune, etwa zwei Reitstunden hinter Falshire. Könnt Ihr Euch nicht erinnern?«
    »Nur ein wenig. Ich fühle mich nicht besonders gut.« Genauer gesagt, fühlte sie sich entsetzlich. Sie zitterte nach wie vor, gleichzeitig aber war ihr heiß, und sie war noch verwirrter als sonst, wenn sie einmal mitten in der Nacht aufwachte.
    »Wie sind wir hierhergekommen?«
    »Wir hatten eine Auseinandersetzung mit den Feuertänzern.«
    »Ach ja … daran erinnere ich mich. Und an den Ritt.«
    Simon stieß im Dunkeln einen Laut aus, der ein Lachen sein konnte. »Nun, nach einer Weile hörten wir eben auf zu reiten. Ihr habt selbst beschlossen, dass wir hierbleiben sollten.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht mehr.«
    Simon ließ sie los – ein wenig widerwillig, wie sie selbst in ihrer Benommenheit deutlich merkte. Er kroch über die dünne Strohschicht von ihr fort. Gleich darauf knarrte und holperte etwas, und ein dünner Lichtstreifen drang herein. Vor dem viereckigen Umriss eines Fensters hob sich Simons dunkle Gestalt ab. Er suchte einen Gegenstand, um den Laden fest zu stellen.
    »Es hat aufgehört zu regnen«, meldete er.
    »Mir ist kalt.« Sie versuchte sich ins Stroh zu wühlen.
    »Ihr habt Euren Mantel weggetreten.« Simon bewegte sich durch den Heuboden zu ihr zurück. Er fand ihren Mantel und deckte sie bis ans Kinn damit zu. »Wenn Ihr wollt, könnt Ihr meinen auch noch haben.«
    »Ich glaube, so ist es schon gut«, antwortete Miriamel, obgleich ihre Zähne klapperten.
    »Möchtet Ihr etwas zu essen? Ich habe Eure Hälfte aufgehoben – nur den Bierkrug habt Ihr dem großen Kerl auf dem Kopf zerbrochen.«
    »Nur einen Schluck Wasser.« Der Gedanke, ihrem Magen etwas Essbares zuzuführen, hatte nichts Angenehmes.
    Simon kramte in den Satteltaschen, während Miriamel mit um ihre Knie geschlungenen Armen dasaß und durch das offene Fenster in den Nachthimmel starrte. Die Sterne lagen hinter einem Wolkenschleier verborgen. Nachdem Simon ihr den Wasserschlauch gebracht und sie getrunken hatte, überkam sie von neuem bleierne Müdigkeit.
    »Es geht mir … schlecht«, erklärte sie stockend. »Ich glaube, ich muss noch etwas schlafen.«
    In Simons Stimme lag

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