Der Engelsturm
Stroh, bis sie die vordere Kante erreicht hatte und nach unten spähen konnte.
Dort stand Simon und übte seine Schwerthiebe. Obwohl der Tagkühl war, hatte er das Hemd ausgezogen; die helle Haut glänzte von Schweiß. Miriamel beobachtete, wie er eine bestimmte Entfernung vor sich abschätzte, dann mit beiden Händen das Schwert hob und es senkrecht über dem Boden hielt, bevor er die Spitze langsam nach unten führte. Seine sommersprossigen Schultern strafften sich, während er einen Schritt nach vorn tat. Er beschrieb einen seitlichen Kreis und bewegte sich um das fast in der Luft stehende Schwert, als hielte er eine fremde Klinge damit fest. Sein Gesicht war so ernst wie das eines Kindes, und aus seinem Mund schaute eine rosa Zungenspitze, die er in feierlicher Konzentration zwischen den Zähnen festhielt. Miriamel verbiss sich ein Kichern, aber es entging ihr nicht, wie seine Haut über die mageren, aber kräftigen Muskeln glitt und die fächerförmigen Schulterblätter und runden Rückenwirbel milchweiß hervortraten. Jetzt hielt er inne, das Schwert wieder starr vor sich. Ein Schweißtropfen rann ihm von der Nase und verschwand im rötlichen Bart. Plötzlich sehnte sie sich heftig danach, wieder von ihm gehalten zu werden, aber trotz ihres Verlangens zog sich beim Gedanken daran ihr Magen schmerzhaft zusammen. Es gab so vieles, das er nicht wusste.
So leise sie konnte, rutschte sie vom Rand des Heubodens fort und zog sich in ihre Kuhle im Stroh zurück. Dort versuchte sie wieder einzuschlafen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Lange lag sie auf dem Rücken, starrte hinaus in die Schatten unter den Dachbalken und lauschte dem Stampfen seiner Füße, dem Zischen der durch die Luft sausenden Klinge und dem gedämpften Ausstoß seines Atems.
Kurz vor Sonnenuntergang ging Simon noch einmal den Berg hinunter, um einen zweiten Blick auf das Haus zu werfen. Als er wiederkam, berichtete er, es stehe tatsächlich leer, obwohl er im Schlamm frische Stiefelabdrücke gesehen hätte. Sonst deute nichts darauf hin, dass jemand sich in der Nähe aufhielt, und Simon war der Meinung, die Spuren stammten höchstwahrscheinlich von irgendeinem harmlosen Vagabunden wie dem alten Trunkenbold Heanwig. So packten sie ihre Sachen zusammen und zogen um. Miriamel war zuerst so schwindlig, dass sie sich auf Simon stützen musste, um nicht hinzufallen,aber nach ein paar Dutzend Schritten fühlte sie sich bereits kräftig genug, allein weiterzugehen, war aber so vorsichtig, sich weiterhin gut an Simons Arm festzuhalten. Simon bewegte sich ganz langsam und zeigte ihr die Stellen, an denen der Pfad schlüpfrig vom Schlamm war.
Das kleine Haus schien schon seit einiger Zeit verlassen zu sein, und es gab, wie Simon schon berichtet hatte, ein paar Löcher im Strohdach. Aber in der Scheune hatte es noch viel mehr gezogen, und das Häuschen verfügte wenigstens über einen Kamin. Simon schleppte ein paar gespaltene Scheite herein, die er draußen an der Wand aufgestapelt gefunden hatte. Er bemühte sich, ein Feuer anzuzünden, während Miriamel in ihren Mantel geduckt dasaß und ihre Nachtherberge betrachtete.
Wer immer hier gewohnt haben mochte, hatte nicht viel zurückgelassen; darum nahm Miriamel an, dass die Umstände, die die Besitzer vertrieben hatten, wohl nicht überraschend eingetreten waren. Das einzige verbliebene Möbelstück war ein Hocker mit einem zersplitterten Bein, der schief am Kamin lehnte. Daneben lag auf einem Stein eine einsame, zerbrochene Schüssel, jede Scherbe noch an der Stelle, wo sie zur Ruhe gekommen war, als wäre das Gefäß erst gerade eben hingefallen. Der harte Bodenlehm war mit Binsen bedeckt, die feucht und braun geworden waren. Nur die zahllosen Spinnweben, die vom Strohdach herunterhingen oder die Ecken überspannten, schienen aus neuerer Zeit zu stammen, aber sogar sie wirkten fadenscheinig und ärmlich, als sei das Jahr nicht einmal für Spinnen gut gewesen.
»So.« Simon stand auf. »Es brennt. Ich hole noch die Pferde.«
Während er fort war, setzte sich Miriamel ans Feuer und wühlte in den Satteltaschen nach etwas Essbarem. Zum ersten Mal seit zwei Tagen spürte sie Hunger und wünschte sich, die Besitzer des Hauses hätten ihren Suppentopf zurückgelassen; der Haken hing leer über dem Feuer. Aber da sie es leider nicht getan hatten, musste Miriamel sich mit dem begnügen, was sie fand. Sie schob ein paar Steine zum Erhitzen in die Glut und legte die wenigen noch übrigen Mohrrüben und
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