Der Engelsturm
Rückweg von dem Feld, das neben dem Haus liegt. Ich hatte dort ein paar … ein paar Blumen gepflückt.«
Miriamel betrachtete ihn fragend. »Blumen? Was wolltest du denn mit Blumen?«
Simon überhörte die Frage und fuhr fort: »Ich hörte ein Geräusch und sah auf. Hinter mir, oben auf der Anhöhe, stand ein Stier.«
»Simon!«
»Sehr freundlich hat er nicht gewirkt. Er war ganz knochig, mit roten Augen und blutigen Kratzern an den Seiten.« Simon fuhr sich zur Erläuterung mit den Fingern über die Rippen.
»Wir blieben beide einen Moment so stehen und glotzten einander an, und dann senkte er den Kopf und fing an zu prusten und zu schnauben. Ich fing an, rückwärts auf das Haus zuzugehen. Da kam er mir den Hügel herunter nach, mit ganz kleinen, tanzenden Schritten, die aber immer schneller wurden.«
»Aber Simon! Und was hast du getan?«
»Nun … vor einem Stier den Berg hinunterzurennen kam mir reichlich albern vor, darum ließ ich die Blumen fallen und kletterte auf den ersten Baum, der hoch genug war. Der Stier hielt davor an – ich konnte gerade noch rechtzeitig die Füße hinaufziehen –, senkte dann plötzlich wieder den Kopf und … wumm!« – Simon schlug sich mit der Faust in die offene Handfläche – »donnerte er gegen den Stamm. Der ganze Baum wackelte, und ich wäre fast von dem Ast gefallen, an dem ich hing, wenn ich mich nicht mit den Beinen ordentlich daran festgeklammert hätte. Dann stemmte ich mich hoch, bis ich oben auf dem Ast saß, denn jetzt fing dieses dumme Vieh an, den Baum mit seinem Kopf zu rammen, immer und immer wieder, bis ihm die Haut auf der Stirn platzte und Blut über sein Gesicht floss.«
»Das ist ja furchtbar. Er muss toll gewesen sein. Das arme Tier.«
»Das arme Tier! So ist es recht!« Simon hob in gespielter Verzweiflung die Stimme. »Es versucht, Euren persönlichen Beschützer umzubringen, und Ihr nennt es ›das arme Tier‹!«
Miriamel lächelte. »Ich bin froh, dass es dich nicht umgebracht hat. Und wie ging es weiter?«
»Ach, schließlich wurde er müde und ging weg«, antwortete Simon leichthin. »Hinunter ins Tal, sodass er nicht mehr zwischen mir und dem Zaun stand. Trotzdem, als ich dann den Hang hochrannte, dachte ich immer, ich hörte ihn hinter mir.«
»Jedenfalls war es knapp.« Miriamel konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. Simon verzog das Gesicht. »Aber ich freue mich, dass du das Ungeheuer nicht erschlagen hast, obwohl du doch ein Ritter bist. Schließlich kann es nichts dafür, dass es toll ist.«
»Das Ungeheuer erschlagen? Wie denn, mit bloßen Händen?« Simon lachte, aber es klang ganz zufrieden. »Allerdings wäre es vermutlich eine Wohltat gewesen, wenn ich es getan hätte. Denn es gibt bestimmt keine Rettung mehr für den Stier, und darum haben ihn die Leute, die früher hier wohnten, wohl auch zurückgelassen.«
»Vielleicht ist er aber auch verrückt geworden, weil sie ihn nicht mitgenommen haben«, versetzte Miriamel langsam. Sie sah Simon an und merkte, dass er den seltsamen Unterton ihrer Stimme gehört hatte. »Ich bin jetzt müde. Vielen Dank für das Brot.«
»Ich habe noch etwas.« Er griff in seinen Mantel und reichte ihr einen kleinen grünen Apfel. »Der einzige, den ich auftreiben konnte.«
Miriamel musterte den Apfel erst einmal misstrauisch und roch daran, bevor sie vorsichtig abbiss. Er war nicht süß, sondern von höchst angenehmer Säure. Sie aß die Hälfte und bot Simon den Rest an.
»Sehr gut«, meinte sie, »wirklich sehr gut, aber ich kann immer noch nicht viel essen.«
Simon verzehrte vergnügt den halben Apfel, während Miriamel die Kuhle fand, die sie sich ins Stroh gewühlt hatte, und sich ausstreckte. »Ich werde wieder ein bisschen schlafen, Simon.«
Er nickte und musterte sie dabei so sorgfältig, dass Miriamel sich abwenden und den Mantel über ihr Gesicht ziehen musste. Für diese Art von Aufmerksamkeit fühlte sie sich im Augenblick nicht kräftig genug – noch nicht.
Am späten Nachmittag wachte sie auf. Irgendwoher kam ein ungewöhnliches Geräusch – Stampfen und Zischen und Stampfen und Zischen. Ein wenig verängstigt und immer noch sehr schwach, blieb Miriamel zunächst reglos liegen und versuchte zu entscheiden, ob es jemand sein könnte, der nach ihnen suchte, oder Simons Stier oder noch etwas ganz anderes und vielleicht viel Schlimmeres. Endlich nahm sie sich zusammen und kroch leise über den Heuboden. Sie bewegte sich so lautlos wie möglich über den dünnen Teppich aus
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