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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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heute ist, aber er war einmal ein guter Mensch. Er liebte meine Mutter über alles auf der Welt.«
    Und sie dachte an das graue, schmerzverzerrte Gesicht ihres Vaters, an den Schleier aus Kummer und Zorn, der sich über ihn gelegt und nie wieder gehoben hatte, und sie fing an zu weinen.
    »Und darum muss ich zu ihm gehen«, erklärte sie endlich mit unsicherer Stimme. »Aus diesem Grund.«
    Simon raschelte in seinen Decken. »Wie – was meint Ihr? Zu wem wollt Ihr gehen?«
    Miriamel holte tief Luft. »Zu meinem Vater, natürlich. Darum wollen wir zum Hochhorst. Weil ich mit meinem Vater sprechen muss.«
    »Was redet Ihr da für einen Unsinn?« Simon setzte sich auf. »Wir wollen zum Hochhorst, um das Schwert Eures Großvaters zu holen – Hellnagel.«
    »Das habe ich nie gesagt. Du hast es gesagt.« Trotz ihrer Tränen wurde Miriamel wütend.
    »Ich verstehe Euch nicht. Wir führen Krieg mit Eurem Vater. Wollt Ihr ihn aufsuchen und ihm erzählen, Ihr hättet wieder ein Cockindrill unter dem Bett? Was soll das alles?«
    »Sei nicht grausam, Simon. Wag es nicht!« Sie merkte, dass ihre Tränen zum Sturzbach anzuschwellen drohten, aber trotzdem glühte in ihrem Herzen ein kleiner Funke Wut.
    »Es tut mir leid«, sagte Simon, »aber ich begreife Euch einfach nicht.«
    Miriamel presste die Hände aneinander, so fest sie konnte, und konzentrierte sich darauf, bis sie ihre Beherrschung wiedergefunden hatte. »Ich habe dir ja auch noch nichts erklärt, Simon. Es tut mir auch leid.«
    »Dann erklärt es mir jetzt. Ich höre Euch zu.«
    Miriamel horchte eine Zeitlang auf die Flammen. Sie knackten und zischten. Dann begann sie. »Es war Cadrach, der mir die Wahrheit zeigte, obwohl ich nicht glaube, dass es ihm selber klar war. Wir reisten zusammen, und er erzählte mir von dem Buch des Nisses.Er hatte es einmal besessen, das Buch selbst oder vielleicht nur eine Abschrift.«
    »Das Zauberbuch, von dem Morgenes sprach?«
    »Ja. Und es ist ein Ding der Macht. So mächtig, dass Pryrates, als er davon erfuhr … nach Cadrach schickte.« Sie verstummte einen Augenblick und dachte an Cadrachs Beschreibung der blutroten Fenster und der Eisengeräte, an denen noch Haut und Haare der Gefolterten klebten. »Er bedrohte ihn so lange, bis Cadrach ihm alles erzählte, an das er sich erinnerte. Cadrach sagte, Pryrates hätte sich besonders dafür interessiert, wie man mit den Toten reden könnte – ›durch den Schleier sprechen‹ nannte er es.«
    »Nach allem, was ich von Pryrates weiß, wundert mich das gar nicht.« Auch Simons Stimme zitterte. Offenbar hatte er seine eigenen Erinnerungen an den roten Priester.
    »Aber genau dadurch fing ich an zu begreifen«, fuhr Miriamel fort, die nun, da sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, ihre Idee laut auszusprechen, den Faden nicht verlieren wollte. »Ach, Simon, ich hatte mir so lange den Kopf darüber zerbrochen, wieso mein Vater sich derart verändern und wieso Pryrates ihn zu solchen niederträchtigen Dingen überreden konnte.« Sie schluckte. Ihre Wangen waren noch immer tränennass, aber zumindest für den Augenblick hatte sie neue Kraft gefunden. »Mein Vater liebte meine Mutter. Nach ihrem Tod war er ein anderer Mensch. Er weigerte sich, wieder zu heiraten, wollte es nicht einmal in Erwägung ziehen, so sehr ihn Großvater auch drängte. Es gab ständig heftige Auseinandersetzungen deshalb. ›Du brauchst einen männlichen Erben‹, sagte mein Großvater, aber mein Vater gab ihm jedes Mal zur Antwort, er werde sich kein zweites Mal vermählen, denn er habe eine Frau gehabt und Gott habe sie ihm wieder genommen.« Sie hielt inne und erinnerte sich.
    »Ich verstehe es trotzdem nicht«, beharrte Simon ruhig.
    »Nein? Nun, Pryrates muss meinem Vater erklärt haben, er könne mit den Toten sprechen – könne es möglich machen, dass mein Vater mit meiner Mutter reden, sie vielleicht sogar sehen könnte. Du kennst Elias nicht, Simon. Er war untröstlich über den Verlust. Ich glaube, er hätte alles getan, um sie zurückzugewinnen, und sei es auch nur für eine kleine Weile.«
    Simon pfiff leise durch die Zähne. »Aber das ist … das ist Gotteslästerung. Ein Frevel.«
    Miriamel lachte. Es klang ein wenig schrill. »Als ob ihn das gestört hätte! Ich sage dir doch, er hätte alles getan, um sie wiederzubekommen. Pryrates muss ihm vorgelogen haben, dass man Verbindung mit ihr aufnehmen könnte … ›durch den Schleier‹, oder wie immer es in dem grässlichen Buch heißt. Vielleicht

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