Der Engelsturm
Scadach erblickt und hatte gehört, wie seine leblose Stimme den Untergang der Götter und mit ihnen der Menschheit vorhersagte. Alles Böse der Welt lag hinter diesen Mauern – und nun versuchten die Götter, den Wall niederzureißen.
Maegwin wusste, dass die Wege der Götter voller Geheimnisse waren. Und doch war sie überrascht, dass es so unendlich viele Geheimnisse gab.
Sie fing von neuem an zu singen, noch immer in der Hoffnung, das Geräusch übertönen zu können, das sie so beunruhigte. Doch bald gab sie es wieder auf. Hier sangen die Götter selbst, und ihre Stimmen waren der ihren weit überlegen.
Warum hören sie nicht endlich auf? , dachte sie verzweifelt. Warum lassen sie nicht alles, wie es ist?
Aber es war sinnlos, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Die Götter hatten ihre Gründe. Das war schon immer so gewesen.
Eolair hatte den Versuch, die Sithi zu verstehen, schon lange aufgegeben. Er wusste, dass sie – was immer Maegwins armes, fiebriges Hirn in ihnen sehen mochte – keine Götter waren, aber wesentlich leichter zu begreifen als die Beherrscher des Himmels waren sie auch nicht. Der Graf wandte sich vom Feuer ab und kehrte Maegwin den Rücken.
Sie hatte vor sich hingesungen, war dann aber verstummt. Obwohl sie eine schöne Stimme besaß, hatte sie sich vor dem Gesang der Friedlichen dünn und misstönend angehört. Das lag nicht an ihr. Keine menschliche Stimme konnte den Vergleich mit ihren Liedern aushalten.
Ein Schauder überlief den Grafen von Nad Mullach. Jetzt schwoll der Chor der Sithistimmen von neuem an. Man konnte ihre Musik so wenig überhören, wie man ihre Katzenaugen übersehen konnte, wenn sie einen anstarrten. Das rhythmische Lied wurde lauter undbegann zu hämmern wie der Ruf eines Steuermanns, der seine Ruderer anfeuert.
Seit drei Tagen sangen die Sithi nun, zusammengedrängt vor den kahlen Mauern von Naglimund, umstoben vom Schnee. Was immer sie damit auch bezweckten, sie blieben von den Nornen in der Burg nicht unbehelligt. Mehrmals schon waren die weißgesichtigen Verteidiger auf die Zinnen gestiegen und hatten Pfeilsalven auf die Singenden abgeschossen. Einige der Sithi waren bei diesen Angriffen gefallen, aber auch in ihren Reihen standen Bogenschützen. Jedes Mal waren die Nornen von den Wällen vertrieben worden, und die Sithi hatten ihre Stimmen wieder erhoben.
»Ich bin nicht sicher, ob ich das noch lange aushalte, Eolair.« Aus dem ziehenden Nebel tauchte Isorn auf, Eiskristalle im Bart. »Ich musste auf die Jagd gehen, nur um hier wegzukommen, aber diese Töne haben mich die ganze Zeit verfolgt.« Er ließ einen Hasen vor dem Feuer zu Boden fallen. Aus der Pfeilwunde in der Flanke des Tiers rann es rot und befleckte den Schnee. »Guten Tag, Herrin«, begrüßte der Herzogssohn Maegwin. Sie sang nicht mehr, blickte aber nicht zu ihm auf. Es war, als sähe sie nur das flackernde Feuer.
Eolair fing Isorns neugierigen Blick auf und zuckte die Achseln. Um ihn von ihr abzulenken, sagte er: »Eigentlich klingt es gar nicht so schlimm.«
Der Rimmersmann hob die Brauen. »Nein, Eolair, es klingt auf seine Art sogar schön. Aber es ist zu schön für mich, zu stark, zu fremdartig. Es macht mich krank.«
Der Graf runzelte die Stirn. »Ich weiß. Die Männer fangen auch an, unruhig zu werden. Sogar mehr als unruhig – sie haben Angst.«
»Aber warum tun die Sithi das? Sie setzen ihr Leben dabei aufs Spiel – gestern sind wieder zwei getötet worden! Wenn es ein Feenritual ist, das sie vollziehen müssen, warum können sie es dann nicht außer Schussweite abhalten?«
Eolair schüttelte ratlos den Kopf. »Ich weiß es nicht. Bagba beiß mich – ich habe keine Ahnung, Isorn.«
Unablässig wie das Rauschen des Ozeans zogen die Stimmen der Sithi über das Lager hin.Jiriki kam kurz vor Morgengrauen, als es noch dunkel war. Die schlummernde Glut des Feuers tauchte seine scharfen Züge in purpurrotes Licht.
»Heute Morgen«, erklärte er, hockte sich nieder und schaute in die glimmenden Kohlen. »Noch vor dem Mittag.«
Eolair rieb sich die Augen, um richtig wach zu werden. Er hatte nicht fest geschlafen, aber doch wenigstens zeitweise Ruhe gefunden. »Heute … heute Morgen? Was soll da sein?«
»Der Beginn der Schlacht.« Jiriki drehte sich um und warf Eolair einen Blick zu, den dieser auf einem vertrauteren Gesicht als Mitleid gedeutet hätte. »Es wird entsetzlich werden.«
»Woher kennt Ihr den Zeitpunkt?«
»Weil wir ihn vorbereitet haben. Wir
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