Der Engelsturm
langsam. Seine Brust hob und senkte sich, und er holte tief Atem. »Ich habe nie von diesen Dingen gesprochen, nicht einmal im Beichtstuhl. Dieses Schweigen ist ein Teil meiner Schmach, wenn auch nicht der größte Teil.«
»Kein Mensch ist ohne Schmach, jeder hat Unrecht begangen.«
Isgrimnur fing sichtlich an, ein wenig ungeduldig zu werden.
»Wir wollen Euch Euer Geheimnis nicht entreißen, Camaris, sondern lediglich wissen, ob sich aus Euren Beziehungen mit den Sithi, sofern so etwas bestanden hat, Antworten auf einige unserer Fragen ergeben. Verdammt noch mal!«, fügte er hinzu, als sei es ihm erst nachträglich eingefallen.
Über Camaris’ Gesicht zog ein winterkaltes Lächeln. »Ihr wartimmer bewundernswert geradeheraus, Isgrimnur.« Das Lächeln verschwand und hinterließ eine furchtbare, ausweglose Leere. »Nun gut. Schickt nach dem Priester.«
»Habt Dank, Camaris.« Josua erhob sich. »Wir stehen in Eurer Schuld. Strangyeard betet am Bett der kleinen Leleth. Ich selbst werde ihn holen.«
Camaris und Strangyeard waren miteinander weit den Hügel hinuntergewandert. Im Eingang von Josuas Zelt stand Tiamak und sah ihnen nach, und er fragte sich trotz des Lobs für seine Klugheit, ob er wohl das Richtige getan hatte. Vielleicht stimmte, was er einmal von Miriamel gehört hatte: dass sie Camaris möglicherweise keinen Gefallen damit getan hatten, als sie ihn aus seinem vernunftlosen Zustand befreiten. Ihn jetzt zu zwingen, eine so unmissverständlich schmerzhafte Erinnerung aufzufrischen, war gewiss auch nicht besser.
Lange standen die beiden, der hochgewachsene Ritter und der Priester, auf dem windigen Hang beieinander – so lange, dass eine breite Wolkenbank vorüberziehen und man endlich die blasse Nachmittagssonne sehen konnte. Endlich drehte Strangyeard sich um und schritt wieder bergauf. Camaris blieb stehen und sah ins Tal hinaus, hinüber zum grauen Spiegel des Clodu-Sees. Der Ritter wirkte wie in Stein gehauen, ein Standbild, das im Lauf der Zeit zur gesichtslosen Säule verwittern, aber hundert Jahre später noch immer am selben Fleck stehen würde.
Tiamak steckte den Kopf ins Zelt. »Vater Strangyeard kommt zurück.«
Mit gebeugten Schultern stapfte der Priester bergan. Tiamak wusste nicht, ob es an der Kälte lag oder daran, dass er nun die Last von Camaris’ Geheimnissen trug. Ohne Zweifel aber zeigte sein Gesicht, als er jetzt die letzten paar Ellen hinaufkam, den Ausdruck eines Menschen, der Dinge gehört hat, die er lieber nicht erfahren hätte.
»Alle warten auf Euch, Vater Strangyeard«, begrüßte ihn Tiamak.
Der Archivar nickte zerstreut. Seine Augen waren zu Boden gerichtet, als prüfte er genau, wohin er die Füße setzte. Tiamak ließihn vorbei und folgte ihm dann in das vergleichsweise warme Innere des Zeltes.
»Willkommen, Strangyeard«, sagte Josua. »Bevor Ihr beginnt: Wie geht es Camaris? Sollten wir lieber jemanden zu ihm schicken?«
Der Priester schaute so erschrocken auf, als habe er nicht damit gerechnet, eine menschliche Stimme zu hören. Der Blick, den er Josua zuwarf, war selbst für den schüchternen Strangyeard auffallend ängstlich. »Ich … ich weiß nicht, Prinz Josua. Ich weiß ohnehin nicht viel … und im Augenblick weiß ich eigentlich gar nichts mehr.«
»Ich werde zu ihm gehen«, brummte Isgrimnur und erhob sich von seinem Hocker.
Vater Strangyeard machte eine Handbewegung. »Ich … ich glaube, er möchte allein sein.« Er betastete seine Augenklappe und fuhr sich mit den Fingern durch das schüttere Haar. »Ach, barmherziger Usires. Die armen Seelen.«
»Armen Seelen?«, fragte Josua. »Wovon redet Ihr, Strangyeard? Habt Ihr uns denn gar nichts zu berichten?«
Der Archivar rang die Hände. »Camaris war in Jao é-Tinukai’i. So viel … ach Gott … so viel hat er mir gesagt, bevor er mir das Beichtsiegel auferlegte, und er wusste auch, dass ich es Euch mitteilen würde. Aber der Grund für seinen Besuch und das, was dort geschah, müssen hinter der Tür des Erlösers verschlossen bleiben.« Sein Blick streifte durch das Zelt, als bereite es ihm Pein, zu lange auf dieselbe Stelle zu schauen. Dann fiel sein Auge auf Vara und blieb aus irgendeiner Ursache auf ihr haften, während er fortfuhr: »Immerhin glaube ich, dass ich so viel sagen kann: Meines Erachtens stehen Camaris’ Erlebnisse in Jao é-Tinukai’i in keinem Zusammenhang mit unserer jetzigen Lage, und es ergibt sich aus ihnen nichts über den Sturmkönig, die drei Großen
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