Der Engelsturm
Tal hielt Simon plötzlich an und riss dabei so scharf an Heimfinders Zügel, dass die Stute noch lange, nachdem sie schon zum Stehen gekommen war, unruhig von einer Seite auf die andere trat.
»Da vorn auf der Straße ist jemand«, sagte er leise. »Dort, gleich hinter den Bäumen.« Er deutete auf eine Stelle, an der der Weg eine Krümmung machte und nicht mehr zu überblicken war.
»Seht Ihr sie?«
Miriamel strengte ihre Augen an. Die frühe Dämmerung hatte die Straße vor ihnen in einen unbestimmten grauen Streifen verwandelt.
Wenn sich hinter den Bäumen etwas bewegte, konnte sie es von ihrer Warte aus nicht wahrnehmen. »Wir nähern uns offenbar der Stadt.«
»Dann kommt. Wahrscheinlich sind es nur Leute auf dem Heimweg, aber wir haben den ganzen Tag über sonst keine Seele zu Gesicht bekommen.« Er lenkte Heimfinder vorwärts.
Als sie die Biegung umrundet hatten, stießen sie auf zwei Gestalten, die mitten auf der Straße dahintrotteten. Beide trugen Eimer. Als das Klappern der Pferdehufe an ihre Ohren drang, zuckten sie zusammen und sahen sich so schuldbewusst um wie ertappte Diebe. Miriamel war überzeugt, dass sie ebenso erstaunt wie Simon und sie waren, auf dieser einsamen Straße andere Reisende zu finden.
Als die Reiter näher kamen, wichen die beiden Wanderer an den Straßenrand aus. Ihren dunklen Kapuzenmänteln nach zu schließen, waren sie wahrscheinlich Leute aus der Gegend, Bergbewohner. Simon hob grüßend die Hand an die Stirn.
»Gott gebe euch einen guten Tag!«, sagte er.
Der vorderste der beiden sah zu ihm auf und hob ebenfalls vorsichtig die Hand, um den Gruß zu erwidern. Auf einmal hielt er mit großen Augen inne.
»Beim Baum !« Simon zügelte sein Pferd. »Ihr seid die beiden aus der Schenke in Falshire!«
Was soll das? , dachte Miriamel erstaunt und erschrocken. Sind das Feuertänzer? Reite doch weiter, Simon, du Dummkopf!
Er drehte sich zu ihr um. »Miriamel. Seht doch.«
Zu ihrer Überraschung fielen die beiden Wanderer in den Kapuzenmänteln auf die Knie. »Ihr habt uns das Leben gerettet«, sagte eine Frauenstimme.
Miriamel hielt an und betrachtete sie. Es waren die Frau und der Mann, die von den Feuertänzern bedroht worden waren.
»Das ist wahr«, bestätigte der Mann mit unsicherer Stimme. »Möge Usires Euch segnen, guter Ritter.«
»Bitte steht auf.« Simon war sichtlich erfreut, zugleich aber verlegen. »Bestimmt hätte euch jemand anders geholfen, wenn wir nicht gekommen wären.«
Die Frau erhob sich, ohne auf den Schlamm zu achten, der in Kniehöhe ihren langen Rock befleckte. »Niemand schien es eilig damit zu haben. So ist es nun einmal. Es sind die Guten, die Schmerzen leiden müssen.«
Der Mann warf ihr einen raschen Blick zu. »Genug davon, Frau. Diese Herrschaften brauchen nicht erst von dir zu hören, was mit der Welt nicht in Ordnung ist.«
Sie erwiderte den Blick mit schlecht verhohlenem Trotz. »Eine Schande ist es, sonst nichts. Eine Schande, dass es in der Welt so zugeht.«
Der Mann wandte seine Aufmerksamkeit wieder Simon und Miriamel zu. Er stand in mittleren Jahren und hatte ein von Jahren unter harter Sonne gerötetes und gegerbtes Gesicht. »Meine Frau hat ihre eigenen Vorstellungen, versteht Ihr, aber im Grunde hat sie ganz recht. Ihr habt uns das Leben gerettet, o ja, das habt Ihr.« Er zwang sich zu einem Lächeln. Der Mann machte einen verstörten Eindruck – dass man sein Leben gerettet hatte, schien ihn fast genauso zu ängstigen, als hätte er keine Hilfe gefunden. »Habt Ihr schon einen Schlafplatz für heute Nacht? Meine Frau Gullaighn und ich – ich heiße Roelstan – würden uns freuen, wenn wir Euch eine Unterkunft anbieten dürften, so gut wir es vermögen.«
»Wir müssen noch weiter«, erwiderte Miriamel, die der Gedanke, bei fremden Leuten zu übernachten, mit Unruhe erfüllte.
Simon sah sie an. »Ihr wart krank.«
»Ich kann noch weiter reiten.«
»Ja, das könnt Ihr wahrscheinlich, aber warum sollen wir ein Dach über dem Kopf ablehnen, und sei es nur für eine Nacht?« Er schaute auf den Mann und seine Frau und lenkte dann sein Pferd näher zu Miriamel. »Es könnte das letzte Mal sein, dass wir aus dem Wind und dem Regen herauskommen«, flüsterte er, »zumindest bis …« Er brach ab, weil er ihr Ziel nicht einmal im Flüsterton andeuten wollte.
Miriamel war tatsächlich müde. Sie zögerte kurz und nickte dann.
»Gut«, sagte Simon und wandte sich an das Paar. »Wir wären dankbar für den Schutz eures
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