Der Engelsturm
Befehl. Seine Mutter, die stumm dagehockt hatte, sprang auf und fügte einige Worte hinzu. Eine Abteilung Bogenschützen rückte vor, bis sie die Gruppe vor der Mauer im Halbkreis umgaben. Die Schützen legten Pfeile auf ihre Sehnen und spannten die Bogen. Ihre Augen streiften über den leeren Wall.
Die Anführerin der M’yon Rashí, eine Sitha mit grasgrünen Haaren und einer Rüstung in etwas dunklerem Grün, hob ihren Stab und schwang ihn so langsam gegen die Mauer, als kämpfe sie damit gegen die starke Strömung eines Flusses an. Als das blaue Juwel aufprallte, stießen die vier M’yon Rashí gemeinsam eine einzige, laute Silbe aus. Eolair spürte ein Beben in seinen Knochen, als sei ein ungeheures Gewicht neben ihm zu Boden gefallen. Die Erde wankte unter seinen Füßen.
»Was …?«, keuchte er und hielt sich mühsam im Gleichgewicht. Jiriki, der vor ihm stand, gebot ihm mit einer Handbewegung Schweigen.
Die anderen drei Sithi traten jetzt neben die Frau in Grün. Sie sangen gemeinsam und hoben ihre Stäbe, um in einem angedeuteten Dreieck um den Mittelpunkt des ersten Stabes herum an die Mauer zu schlagen. Jeder Anprall hallte donnernd im Boden wider und stieg Eolair und den anderen Zuschauern durch die Beine bis hinauf in den Körper.
Der Graf von Nad Mullach riss die Augen auf. Auf einer Fläche von einem Dutzend Ellen rutschte dort, wo die M’yon Rashí standen, der Schnee von den Steinen. Rund um die Juwelenknäufe dervier Stäbe hatte die Mauer einen hellen Grauton angenommen, als sei sie morsch geworden – als bedecke sie ein Netz feiner Risse.
Nun entfernten die Sithi ihre Schlagstäbe wieder von der Mauer. Der Gesang wurde lauter. Von neuem, diesmal etwas schneller, schlug die Anführerin zu. Der stumme Donner ihres Hiebs grollte durch die gefrorene Erde. Die drei anderen Sithi folgten ihrem Beispiel. Ein laut gesungenes Wort unterstrich jeden Schlag. Als sie zum dritten Mal die Stäbe hoben und die Mauer trafen, begannen sich oben Steinbrocken zu lösen, herabzustürzen und im hohen Schnee zu verschwinden.
Der Graf konnte sein Staunen nicht verhehlen. »So etwas habe ich noch nie gesehen!«
Jiriki drehte sich gelassen zu ihm um, das Gesicht mit den hohen Wangenknochen ruhig. »Ihr solltet nun zu den Euren gehen. Es wird nicht mehr lange dauern. Sie sollen sich bereithalten.«
Eolair konnte den Blick nicht von dem seltsamen Schauspiel abwenden. Er ging rückwärts den Berg hinunter und hielt sich mit ausgestreckten Armen im Gleichgewicht, wenn der wankende Boden ihn zu Fall zu bringen drohte.
Beim vierten Anprall barst ein großes Stück der Mauer und stürzte nach innen. Das Loch sah aus, als hätte ein riesiges Tier oben ein Stück aus dem Wall herausgebissen. Erst jetzt begriff Eolair, wie dringend Jirikis Warnung gewesen war, und rannte den Rest des Weges, bis er Isorn und die wartenden Hernystiri erreicht hatte.
»Los!«, schrie er. »Haltet euch bereit!«
Ein fünftes Beben, das stärkste bisher. Eolair verlor den Halt und fiel vornüber. Er rollte den Berg hinunter, bis er irgendwo hängen blieb. Nase und Mund brannten und waren kalt vom Schnee. Er rechnete eigentlich damit, dass seine Männer ihn auslachen würden, aber die starrten nur mit großen Augen über ihn hinweg bergauf.
Eolair drehte sich um. Die große Mauer von Naglimund, zwei Mannslängen dick, war dabei, sich aufzulösen wie eine Sandburg bei Flut. Ein lautes Schaben von Stein auf Stein, und dann sank die Mauer mit einem unheimlichen, erstickten Laut in sich zusammen. Überall schäumten riesige Schneewirbel empor, und ein heller Flockennebel erfüllte die Luft und deckte alles zu.
Als der Nebel sich lichtete, hatten die M’yon Rashí sich zurückgezogen. Eine Lücke, ein Dutzend Ellen breit, klaffte und gab den Zugang nach Naglimund und seinen Schatten frei. Langsam füllte ein Meer von dunklen Gestalten sie aus. Augen funkelten. Speerspitzen glitzerten.
Eolair kam mühsam hoch. »Männer von Hernystir!«, rief er laut. »Zu mir! Die Stunde ist da!«
Doch seine Männer rührten sich nicht. Stattdessen war es die Horde aus Naglimund, die aus der Bresche hervorbrach, rasch und ohne Zahl – wie Ameisen, die aus einem zerstörten Nest schwärmen.
Gewaltig krachten in den Reihen der Sithi Klingen auf Schilde. Dann schwirrten die ersten Pfeile und töteten viele der vordersten Nornen, die den Hang hinabeilten. Auch einige Nornen trugen Bogen und kletterten auf die Burgmauer, um von dort zu schießen. Aber der
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