Der Engländer
einen Mann mit so viel Geduld vorstellen? Ich würde mich mit niemandem anlegen wollen, der so geduldig ist.«
»Wo findet das Konzert statt? Im unteren oder im oberen Saal?«
»Natürlich im oberen Saal. Man erreicht ihn über eine von Scarpagnino entworfene und ausgeführte breite Marmortreppe.
Die dortigen Wandgemälde stellen den Schwarzen Tod dar. Sehr bewegend.«
»Und wenn ich gezwungen bin, den Auftrag im oberen Saal auszuführen?«
Rossetti drückte seine Fingerspitzen an die Lippen, als schicke er ein stummes Bittgebet gen Himmel. »Bleibt Ihnen nichts anderes übrig, wird es Ihnen nicht schwerfallen, über die Treppe und den Hauptausgang zu entkommen. Draußen können Sie im Gassengewirr von San Polo verschwinden, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen.« Wieder eine kurze Pause, dann fügte er hinzu: »Als Venezianer flehe ich Sie jedoch an, eine andere Möglichkeit zu finden. Es wäre eine Tragödie, wenn Sie einen der unteren Tintorettos beschädigen würden.«
»Beschreiben Sie mir das Gebiet um San Rocco.«
»Kirche und Scuola di San Rocco liegen an einem kleinen Platz. Hinter ihnen liegt ein Kanal, der Rio della Frescada, auf dem beide Gebäude zu erreichen sind. Miss Rolfe hat nur zwei Möglichkeiten, zum Konzertsaal zu gelangen: zu Fuß oder mit einem Wassertaxi. Geht sie zu Fuß, haben Sie reichlich Zeit und Gelegenheit, Ihren Auftrag auszuführen. Außerdem muß sie irgendwann den Canal Grande überqueren - mit einem vaporetto oder traghetto.«
»Könnte sie ihn auf einer Brücke überqueren?«
Rossetti erwog diese Frage sorgfältig. »Nun, sie könnte die Rialtobrücke oder die Akademiebrücke benützen, aber das würde ihren Weg beträchtlich verlängern. Wäre ich ein Spielertyp, würde ich darauf setzen, daß Miss Rolfe vom Baglioni aus mit einem Wassertaxi direkt zum Campo San Rocco fahrt.«
»Und wenn sie das tut?«
»Der Rio della Frescada ist ein sehr schmaler Kanal.
Zwischen seiner Einmündung in den Canal Grande und der Anlegestelle am San Rocco gibt es vier Brücken. Dort böte sich Ihnen reichlich Gelegenheit, den Anschlag zu verüben. Ein Kinderspiel, wenn Sie mich fragen.«
Der Engländer warf dem Italiener einen abschätzigen Blick zu, als wolle er sich dagegen verwahren, daß sein Auftrag so primitiv charakterisiert wurde - erst recht im vorliegenden Fall, in dem die Zielperson unter professionellem Schutz stand.
»Don Orsati hat mitgeteilt, daß Sie Waffen brauchen werden. Eine Pistole und vielleicht eine Waffe mit etwas mehr Feuerkraft für den Fall, daß nicht alles so klappt wie geplant.«
Rossetti stand auf und trat an den altehrwürdigen Panzerschrank in einer Ecke seines Büros, um die Kombination einzustellen und die schwere Tür aufzuziehen. Er nahm einen Aktenkoffer heraus, legte ihn auf die Schreibtischplatte und setzte sich wieder. Dann klappte er den Deckel auf und nahm zwei in dünnes Filztuch gehüllte Waffen heraus. Er packte die erste aus und gab sie dem Engländer: eine 9mm-Tanfoglio Modell S mit pechschwarzem Lauf und Griffschalen aus Walnußholz. Sie roch nach sauberem Waffenöl. Der Berufskiller zog den Schlitten zurück, wog die Pistole prüfend in der Hand, um ein Gefühl für Gewicht und Balance zu bekommen, und begutachtete den Zustand der Züge des Laufs, indem er die Mündung ans Licht hielt.
»Sie hat ein Magazin mit fünfzehn Schuß und ist wegen des längeren Laufs sehr treffsicher«, sagte Rossetti. »Ihr Platz im Konzert ist in der vorletzten Reihe. Weiter vorn war leider nichts mehr zu bekommen. Aber selbst aus dieser Entfernung dürfte ein Mann mit Ihrer Ausbildung keine Mühe haben, sein Ziel mit der Tanfoglio zu treffen.«
»Ich nehme sie. Und ein zusätzliches Magazin.«
»Selbstverständlich.«
»Und die zweite Waffe?«
Rossetti wickelte sie aus und übergab sie dem Profi: eine leichte Maschinenpistole aus österreichischer Produktion. Der Engländer begutachtete die Waffe von allen Seiten.
»Ich habe ausdrücklich eine Heckler & Koch MP5 verlangt«, stellte er fest.
»Ja, ich weiß, aber ich konnte so schnell keine beschaffen.
Mit der Steyr-Mannlicher werden Sie zufrieden sein, davon bin ich überzeugt. Sie ist leicht und läßt sich gut verstecken.
Außerdem ist sie nur für den äußersten Notfall gedacht.«
»Sie wird genügen müssen, denke ich.«
»Sie haben wohl eine besondere Vorliebe für die Heckler & Koch?«
Die hatte der Engländer. Die MP5 war seine Waffe gewesen, als er beim SAS gedient hatte, aber er
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