Der Engländer
verblichen, zerfleddert und vielfach eingerissen, die Knickfalten mit durchsichtigem Klebeband verstärkt. Rossetti breitete den Plan auf seinem Schreibtisch aus und strich ihn mit beiden Händen glatt, als handle es sich um eine Piratenkarte mit Angaben über vergrabene Schätze.
»Das Luna-Hotel Baglioni liegt hier…« Ein schlanker Zeigefinger tippte auf den uralten Stadtplan, »…in der Calle San Marco, nur wenige Schritte von der Vaporetto- Anlegestelle San Marco entfernt. Die Calle San Marco ist sehr schmal, nicht breiter als diese Gasse hier. Das Hotel hat eine private Anlegestelle am Rio della Zecca. Sie können die Vorder-und Rückseite des Hotels unmöglich allein überwachen.«
Der Engländer beugte sich über den Stadtplan, um die Lage des Hotels zu begutachten. »Haben Sie einen Vorschlag?«
»Ich könnte veranlassen, daß die Geigerin überwacht wird. Sobald sie das Baglioni verläßt, würde ich Sie benachrichtigen.«
»Sie haben jemanden im Hotel?«
Rossetti zog die Augenbrauen hoch und senkte den Kopf-eine neutrale Geste, weder bejahend noch verneinend, die nur erkennen ließ, daß er über diesen Punkt nicht weiter diskutieren wollte.
»Vermute ich richtig, daß für diesen Service ein zusätzliches Honorar fällig würde?«
»Für Don Orsati? Es wäre mir ein Vergnügen, ihm diese Gefälligkeit zu erweisen.«
»Erzählen Sie mir, wie das funktionieren könnte.«
»In der Nähe des Hotels gibt es genügend Orte, an denen Sie warten können, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Vor allem natürlich auf dem Markusplatz. In den Cafés an der Calle Marzo. Auf der Fondamenta delle Farine mit Blick auf den Canal Grande.« Rossettis Zeigefinger tippte jeden dieser Punkte leicht an. »Sie haben vermutlich ein Handy?«
Der Engländer klopfte auf seine Brusttasche.
»Geben Sie mir die Nummer und bleiben Sie in der Nähe des Hotels. Sobald die beiden es verlassen, werden Sie angerufen.«
Er zögerte, sich auf eine Partnerschaft mit Rossetti einzulassen, aber leider hatte der Italiener recht: Er konnte das Hotel unmöglich allein überwachen. Also nannte er seine Handynummer, und Rossetti notierte sie sich.
»Natürlich besteht die Möglichkeit, daß die Geigerin in ihrem Hotel bleibt, bis es Zeit wird, sich zum Konzert in die Scuola Grande di San Rocco zu begeben«, sagte Rossetti. »In diesem Fall bliebe Ihnen nichts anderes übrig, als Ihren Auftrag dort auszuführen.«
»Haben Sie eine Eintrittskarte für mich?«
Rossetti nahm die Konzertkarte aus der mittleren Schreibtischschublade und legte sie sorgfältig vor sich hin. Dann benützte er Daumen und Mittelfinger der rechten Hand, um sie über die Schreibtischplatte zu schieben. Der Engländer griff danach, betrachtete sie von beiden Seiten. Rossetti sah aus dem Fenster, während der Kunde die Ware begutachtete, denn er war sich sicher, daß diese Prüfung zur vollen Zufriedenheit ausfallen würde.
»Die Karte ist echt? Keine Fälschung?«
»O ja, völlig echt, das dürfen Sie mir glauben. Und verdammt schwierig zu bekommen. Ich war sogar versucht, sie für mich zu behalten. Ich bin ein großer Verehrer von Anna Rolfe, müssen Sie wissen. Diese Leidenschaft! Jammerschade, daß sie bald nicht mehr…« Er wechselte rasch das Thema. »Kennen Sie die San Rocco?«
Der Engländer steckte die Konzertkarte ein und schüttelte den Kopf.
Rossetti tippte erneut auf seinen Stadtplan. »Die Scuola di San Rocco liegt hier - jenseits des Canal Grande an der Grenze der Stadtbezirke San Polo und Santa Croce, unmittelbar westlich der Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari. San Rocco war der Schutzheilige aller, die an ansteckenden Krankheiten litten, und die scuola stellte eine Wohlfahrtseinrichtung für solche Kranken dar. Ihr Bau wurde durch Spenden reicher Venezianer ermöglicht, die glaubten, dem Schwarzen Tod entrinnen zu können, indem sie großzügig für die scuola gaben.«
Falls der Berufskiller diesen Ausflug in die Geschichte Venedigs auch nur im geringsten interessant fand, ließ er sich nichts davon anmerken. Aber der italienische Juwelier legte die Fingerspitzen beider Hände zusammen und dozierte unbeirrbar weiter.
»Die scuola hat zwei Hauptgeschosse, in denen der untere und der obere Saal liegen. Im Jahr 1564 erhielt Tintoretto den Auftrag, Wände und Decken des Gebäudes auszumalen. Dafür brauchte er dreiundzwanzig Jahre.« Rossetti machte eine kurze Pause, um über diese Tatsache nachzudenken, dann fügte er hinzu: »Können Sie sich
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