Der Engländer
Grenze abzuschieben, über die sie in die Schweiz gelangt waren. Aber obwohl diese Juden aus dem unbesetzten Süden Frankreichs in die Schweiz gekommen waren, wurden sie an die Grenze zum besetzten Frankreich gebracht und einer deutschen Streife in die Arme getrieben. Sie wurden verhaftet, in einen Zug nach Auschwitz gesetzt und vergast.
Gerhardt Peterson hatte sich anfangs geweigert, diese Geschichte zu glauben. Schließlich hatte er in der Schule gelernt, die in diesem Krieg neutrale Schweiz habe Flüchtlingen und verwundeten Soldaten ihre Grenzen geöffnet - sie sei die barmherzige Schwester Europas, ein sicherer Hort inmitten eines von Kriegswirren erschütterten Kontinents gewesen. Er ging zu seinem Vater und fragte ihn, ob die Geschichte mit den Juden wahr sei. Anfangs wollte sein Vater nicht darüber reden.
Als Gerhardt jedoch nicht lockerließ, gab er zuletzt nach. Ja, sie sei wahr, bestätigte er.
»Warum redet dann niemand darüber?«
»Wozu sollten wir darüber reden? Das liegt alles weit zurück. Was geschehen ist, läßt sich nicht mehr ändern.«
»Aber sie sind ermordet worden! Sie sind durch die Schuld von irgend jemandem aus unserem Dorf umgekommen.«
»Sie waren illegal hier. Sie hatten keine Aufenthaltserlaubnis. Außerdem haben nicht wir sie umgebracht, Gerhardt. Die Nazis haben sie ermordet. Nicht wir!«
»Aber, Papa…«
»Schluß damit, Gerhardt! Du hast mich gefragt, ob die Geschichte stimmt, und ich habe dir die Wahrheit gesagt. Jetzt will ich nie wieder etwas davon hören.«
»Warum nicht, Papa?«
Sein Vater gab keine Antwort. Aber Gerhardt Peterson kannte die Antwort schon damals. Er sollte nicht wieder davon anfangen, weil man in der Schweiz nicht über unangenehme Ereignisse aus der Vergangenheit sprach.
Peterson schrak hoch, als ein weiterer Eimer Eiswasser über ihn ausgekippt wurde. Er öffnete die Augen und wurde sofort durch ein gleißend helles weißes Licht geblendet. Als er die Augen zusammenkniff, konnte er undeutlich zwei über ihm stehende Gestalten erkennen: den koboldartigen kleinen Mann mit dem Eimer und den etwas freundlicher wirkenden Gelehrtentyp, der ihn in seinem Haus vor dem Lift aufgefangen hatte, nachdem die Frau ihn betäubt hatte.
»Aufwachen!«
Der Troll kippte noch einen Schwung Eiswasser über Peterson. Sein Körper zuckte heftig, und er schlug sich den Kopf an der Wand an. Dann lag er völlig durchnäßt und vor Kälte zitternd auf dem Boden.
Der Kobold trampelte die Treppe hinauf und verschwand. Der freundlicher wirkende Mann ging neben Peterson in die Hocke und sah ihn traurig an. Peterson, der kurz davor war, wieder das Bewußtsein zu verlieren, verwechselte die Realität mit seinen Träumen. Für Peterson war dieser kleine Mann der Jude aus seinem Dorf, der mit seiner Familie nach Frankreich abgeschoben worden war.
»Tut mir alles leid«, ächzte Peterson, dem vor Kälte die Zähne klapperten.
»Ja, ich weiß«, sagte der Mann neben ihm. »Ich weiß, daß es Ihnen leid tut.«
Peterson begann zu husten. Er hatte einen würgenden Hustenanfall, der seinen Mund mit Schleim und Speichel füllte.
»Sie bekommen jetzt den Chef zu sehen, Gerhardt. Das hier tut vielleicht ein bißchen weh, aber es hilft, damit Sie einen klaren Kopf bekommen.« Eine weitere Injektion - diesmal jedoch in eine Armvene, mit klinischer Präzision verabfolgt.
»Sie müssen klar im Kopf sein, wenn Sie mit dem Chef reden, Gerhardt. Fühlen Sie sich schon besser? Gehen die Spinnweben allmählich weg?«
»Ja, ich denke schon.«
»Das ist gut. Sie dürfen keine Spinnweben im Kopf haben, wenn Sie mit dem Chef reden. Er will alles erfahren, was Sie wissen. Ihr Verstand muß scharf wie ein Rasiermesser sein.«
»Ich habe Durst.«
»Das kann ich mir denken. Sie waren in letzter Zeit sehr fleißig, Gerhardt, aber Sie haben auch allerhand angestellt. Der Chef gibt Ihnen bestimmt zu trinken, wenn Sie sich kooperativ verhalten. Falls nicht…« Er zuckte mit den Schultern und schob die Unterlippe vor. »… dann landen Sie wieder hier unten, und nächstes Mal setzt mein Freund andere Mittel als ein bißchen Wasser ein.«
»Mir ist kalt.«
»Auch das kann ich mir denken.«
»Alles tut mir leid.«
»Ja, ich weiß, daß es Ihnen leid tut. Entschuldigen Sie sich beim Chef und erzählen ihm alles, was Sie wissen, dann läßt er Ihnen zu trinken und warme Sachen bringen.«
»Ich will mit ihm reden.«
»Mit wem wollen Sie reden?«
»Ich will mit dem Chef reden.«
»Sollen
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