Der Engländer
Das alles setzte ihm zu. Peterson stand kurz vor dem Zusammenbruch. Eli Lavon hoffte, daß er bald aufgeben würde.
Er hatte Gabriel noch nie so erlebt. Ihn noch nie so zornig gesehen. Ihn noch nie so brüllen gehört. Irgend etwas an diesem Fall hatte seine alten Wunden allesamt wieder aufgerissen.
Leah. Tariq. Schamron. Sogar seine Eltern. Gabriel war ein Mann, der jederzeit explodieren konnte.
Geben Sie auf, Herr Peterson, dachte Lavon. Sagen Sie ihm alles, was er wissen will. Tun Sie genau, was er verlangt. Tun Sie's nämlich nicht, fürchte ich, daß mein guter Freund Gabriel mit Ihnen in die Berge fährt und Sie als Zielscheibe benützt. Und damit ist keinem geholfen. Ihnen nicht. Und vor allem Gabriel nicht. Aus Peterson machte Lavon sich nichts. Ihm bedeutete allein Gabriel etwas. Er wollte nicht, daß Gabriel Allon seine Hände wieder mit Blut besudelte.
Deshalb war niemand erleichterter als Lavon, als das Gebrüll endlich verstummte. Dann kam das vereinbarte Zeichen: Gabriel hämmerte mit einer seiner noch immer verbundenen Fäuste an die Wand. Ohne aufzustehen, streckte Lavon eine Hand aus und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Gabriel sprach ihn auf hebräisch an. In Lavons Ohren hatte diese Sprache noch nie so freundlich geklungen, obwohl er sich vorstellen konnte, wie einschüchternd sie auf Gerhardt Peterson wirken mußte. »Bring ihm ein paar Klamotten, Eli. Auch was zu essen und zu trinken.
Herr Peterson friert und hat Hunger und Durst. Herr Peterson möchte uns einiges erzählen.«
Der blaue Trainingsanzug saß katastrophal, was durchaus beabsichtigt war. Das Oberteil war zu groß, die Hosenbeine waren zu kurz. Gerhardt Peterson sah darin wie ein Mann in den Klauen einer Midlifecrisis aus, der alte Sportsachen ausgegraben hat, um einen lebensbedrohenden Dauerla uf im Park zu machen.
Das Essen war nicht viel besser: ein Kanten trockenes Brot, ein Suppenteller klare Fleischbrühe. Oded brachte auch einen Krug Eiswasser. Er sorgte dafür, daß etwas Wasser auf Petersons Hand schwappte, um ihn daran zu erinnern, was ihm bevorstand, wenn er nicht auspackte. Gabriel aß nichts. Er hatte nicht die Absicht, sich ein Mahl mit Gerhardt Peterson zu teilen. Der Schweizer aß stetig, aber langsam, als wolle er das Unvermeidliche möglichst lange hinausschieben. Gabriel drängte ihn nicht zur Eile. Peterson löffelte die Fleischbrühe aus und nahm den Rest mit einem Stück Brotrinde auf.
»Wo sind wir hier übrigens?«
»Tibet.«
»Dies ist meine erste Tibetreise.« Peterson rang sich ein schmerzliches Lächeln ab. Als Gabriel sich weigerte, darauf zu reagieren, verblaßte es rasch. »Ich hätte gern eine Zigarette.«
»Sie können keine haben.«
»Warum nicht?«
»Ich mag keinen Zigarettenqualm.«
Peterson schob seinen leeren Teller weg.
Wäre Gabriel Allon kein Profikiller geworden, hätte er einen idealen Vernehmer abgegeben. Er war ein geborener Zuhörer: ein Mann, der nur sprach, wenn es unbedingt notwendig war; der nicht den Drang hatte, den Klang der eigenen Stimme zu hören. Wie ein Jäger auf der Pirsch besaß er auch die Fähigkeit, fast unnatürlich stillzuhalten. Gabriel berührte nie sein Haar oder sein Gesicht, er machte keine Handbewegungen oder rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Im Verein mit seinem Schweigen und seiner unerschütterlichen Geduld machte diese statuenhafte Ruhe ihn zu einem beängstigenden Opponenten, wenn man ihm an einem kahlen Tisch gegenübersaß. Trotzdem staunte selbst Gabriel über Gerhardt Petersons plötzliche Bereitschaft, rückhaltlos auszupacken.
»Woher ich von Rolfes Geheimsammlung gewußt habe?«
fragte Peterson, der damit Gabriels erste Frage wiederholte.
»Also, in Zürich passiert verdammt wenig, ohne daß ich davon erfahre. Obgleich Zürich die größte Stadt der Schweiz ist, bleibt es doch eine Kleinstadt. Wir haben überall unsere Informanten: bei den Banken, in der Wirtschaft, unter Gastarbeitern, bei den Medien.«
Da Gabriel nicht wollte, daß Peterson sich wieder Selbstbewußtsein verschaffte, indem er mit seinen beruflichen Leistungen angab, unterbrach er ihn rasch. »Das ist alles sehr interessant, aber wie haben Sie von Rolfes geheimer Sammlung erfahren?«
»Rolfe war ein kranker alter Mann - das war auf der Bahnhofstraße und am Paradeplatz allgemein bekannt. Jeder wußte, daß er nicht mehr lange zu leben hatte. Dann kamen plötzlich Gerüchte auf. Rolfe verliert allmählich den Verstand. Rolfe will früheres Unrecht
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