Der Engländer
Kopfschmerzen waren eine völlig neue Erfahrung, die irgendwo zwischen einem Trauma und eine m gewaltigen Kater angesiedelt war. Sein Mund schien mit Sand angefüllt zu sein, und er hatte schrecklichen Durst. Jemand hatte ihn bis auf die Unterhose ausgezogen, seine Knöchel und Handgelenke mit Paketband gefesselt und ihn mit nacktem Rücken in sitzender Haltung an die Wand gelehnt. Das gebrechliche Aussehen seines eigenen Körpers schockierte ihn.
Seine blassen, unbehaarten Beine waren vor ihm ausgestreckt - wie die Beine eines Sterbenden mit nach innen gedrehten Zehen.
Über den Gummirand seiner Unterhose quoll eine Speckfalte. Er fror jämmerlich.
Man hatte ihm seine Armbanduhr gelassen, aber das Glas war zertrümmert, und sie ging nicht mehr. Er studierte das durchs Kellerfenster einfallende Licht und gelangte zu dem Schluß, es sei rötlich, weil die Sonne untergehe. Daraus berechnete er die Zeit, obwohl schon diese einfache Aufgabe ihm dumpf dröhnende Kopfschmerzen verursachte. Er war kurz vor Mitternacht überfallen und entfü hrt worden. Jetzt mußte es siebzehn oder achtzehn Uhr am folgenden Tag sein. Achtzehn Stunden. War er achtzehn Stunden lang bewußtlos gewesen?
Das wäre eine Erklärung für seinen Durst und die schmerzhafte Steifheit seines Rückens und seiner Gelenke.
Er fragte sich, wohin sie ihn verschleppt haben mochten.
Licht und Luft waren hier spürbar anders als in der Schweiz.
Einen Augenblick lang fürchtete er, sie hätten ihn heimlich nach Israel gebracht. Nein, in Israel hätte er nicht in einem Keller, sondern in einer richtigen Gefängniszelle gesessen. Er war nicht weit von der Schweiz entfernt. Vielleicht in Frankreich.
Vielleicht in Italien. Die Juden hatten eine Vorliebe für Südeuropa. Dort konnten sie sich bewegen, ohne aufzufallen.
Als nächstes nahm er einen weiteren Geruch wahr, den er nicht gleich einordnen konnte: Myrrhe und Sandelholz, ein ausgefallenes Parfüm. Und dann erinnerte er sich an die Szene vor dem Aufzug in seinem Haus, an die Hand der Frau, die ihn betäubt hatte. Aber warum hatte er ihren Duft an sich? Er sah an sich herab und entdeckte auf der Haut über seinen Rippen vier quer verlaufende rote Spuren: Kratzer. Seine Unterhose war fleckig, und er spürte eine knisternde Klebrigkeit zwischen den Beinen. Was hatten sie mit ihm angestellt? Achtzehn Stunden, starke Drogen…
Peterson sank zur Seite, bis seine rechte Gesichtshälfte auf den kalten Terrakottafliesen lag. Er würgte. Er brachte nichts herauf, aber ihm war entsetzlich schlecht. Seine eigene Schwäche widerte ihn an. Er kam sich plötzlich wie ein reicher Mann vor, der in einem Armenviertel in Schwierigkeiten gerät.
All sein Geld, all seine Kultiviertheit und Überlegenheit - sein Schweizertum - bedeuteten hier nichts. Er befand sich außerhalb der Schutzwälle seiner Alpenfestung. Er war in die Hände von Leuten gefallen, die das Spiel nach ganz anderen Regeln spielten.
Dann hörte er Schritte auf der Treppe. Ein Mann kam herein, klein und schwarzhaarig, mit flinker Beweglichkeit, die verborgene Kraft ahnen ließ. Er wirkte ärgerlich, als er Peterson bei Bewußtsein vorfand. In einer Hand trug er einen silbrig verzinkten Blecheimer. Er hob den Eimer mit beiden Händen hoch und übergoß Peterson mit einem Schwall eiskaltem Wasser.
Der jähe Schmerz war so durchdringend, daß Peterson wider Willen laut aufschrie. Der kleine Mann kniete bei ihm nieder und rammte die Nadel einer Injektionsspritze so tief in seinen Oberschenkel, daß sie den Knochen zu treffen schien, und Peterson versank gnädigerweise wieder in den Wassern seines Sees.
In seiner Jugend hatte Gerhardt Peterson die Geschichte von den Juden gehört, die während des Kriegs in sein Heimatdorf gekommen waren. Jetzt, in einem durch Drogen bewirkten Koma, träumte er wieder von den Juden. Die Geschichte handelte von einer jüdischen Familie, zwei Erwachsenen und drei Kindern, die aus dem unbesetzten Frankreich in die Schweiz geflohen waren. Ein Bauer hatte Mitleid mit den Flüchtlingen und gewährte ihnen auf seinem Hof Unterschlupf in einem winzigen Nebengebäude. Der Dorfpolizist wußte zwar, daß sich im Dorf Juden versteckt hielten, erklärte sich jedoch bereit, ihre Anwesenheit geheimzuhalten. Aber irgend jemand aus dem Dorf meldete den Fall der Kantonspolizei, die am nächsten Tag auf dem Bauernhof anrückte und die Juden festnahm. Die zuständigen Schweizer Stellen hatten Anweisung, illegale Einwanderer über die
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