Der Engländer
Körper zirkulierte und er sich an seine wieder senkrechte Haltung gewöhnte, konnte er auch ohne Hilfe mühsam weiterschlurfen - ein vor kurzem operierter Patient bei ersten wackeligen Gehversuchen auf einem Krankenhausflur.
Am Ende des Korridors erreichten sie eine zweiflügelige Tür, die in eine Rotunde mit acht bis zehn Metern Durchmesser unter einer hohen Kuppel führte. Genau in der Mitte des Rundbaus stand ein kleiner alter Mann, der einen weißen Bademantel trug und sein Gesicht hinter einer übergroßen Sonnenbrille verbarg.
Als Gabriel näher trat, streckte der Alte ihm seine abgezehrte, purpurrot geäderte Rechte hin. Gabriel ignorierte sie jedoch.
»Ah, Herr Allon, ich freue mich, daß wir uns endlich einmal kennenlernen. Ich bin Otto Gessler. Kommen Sie bitte mit. Ich habe hier ein paar Dinge, deren Besichtigung Ihnen vielleicht Spaß machen wird.«
Hinter ihm öffnete sich eine weitere zweiflügelige Tür - langsam und lautlos wie durch eine gutgeölte Automatik. Als Gabriel sich in Bewegung setzte, legte Gessler ihm eine knochige Hand auf den Unterarm.
In diesem Augenblick erkannte Gabriel, daß Otto Gessler blind war.
45 - NIDWALDEN, SCHWEIZ
Vor ihnen lag eine riesengroße Ausstellungshalle mit Tonnengewölbe, die an das Pariser Musée d'Orsay erinnerte.
Durch großflächige Oberlichter fiel ausgezeichnet imitiertes Tageslicht herein. Auf beiden Seiten der Haupthalle zweigten ein Dutzend Korridore ab, die in Säle führten, in denen unzä hlige Gemälde hingen. Obwohl die Säle nicht bezeichnet waren, erkannte Gabriel als Fachmann sofort, daß jeder ein bestimmtes Sammelgebiet beherbergte: italienische Kunst, fünfzehntes Jahrhundert; holländische und flämische Kunst, siebzehntes Jahrhundert; französische Kunst, neunzehntes Jahrhundert. Und so ging es weiter, Saal für Saal, ein Privatmuseum verschollener Meisterwerke aus europäischen Sammlungen. Die Wirkung war überwältigend, allerdings offenbar nicht auf den Hausherrn - Gessler konnte nichts davon sehen.
»Tut mir leid, daß meine Männer Sie etwas grob anfassen mußten, aber das haben Sie allein sich selbst zuzuschreiben. Es war sehr töricht von Ihnen, hierherzukommen.«
Er hatte eine brüchige Stimme, dünn und trocken wie Pergament. Die Hand auf Gabriels Unterarm war gewichtslos wie ein Hauch warmer Luft.
»Jetzt weiß ich, weshalb Sie Augustus Rolfe unbedingt zum Schweigen bringen wollten. Wie viele Gemälde besitzen Sie?«
»Um ganz ehrlich zu sein: Ich habe längst den Überblick verloren.«
Sie gingen am Eingang eines weiteren Saals vorbei: spanische Kunst, fünfzehntes Jahrhundert. Ein Wachmann in blauer Jacke ging darin gelangweilt wie ein Museumswärter auf und ab.
»Und Sie können nichts davon sehen?«
»Nein, leider nicht.«
»Warum behalten Sie die Bilder dann?«
»Man könnte meine Situation mit der eines impotenten Mannes vergleichen. Daß ich nicht mit meiner Frau verkehren kann, heißt noch lange nicht, daß ich bereit bin, ihren Körper anderen zur Verfügung zu stellen.«
»Sie sind also verheiratet?«
»Eine raffinierte Frage, Herr Allon, aber in der Schweiz wird das Recht auf Privatleben sehr hochgehalten. Vielleicht habe ich dieses Prinzip ins Extreme übersteigert, aber das ist nun mal mein gewählter Lebensstil.«
»Waren Sie schon immer blind?«
»Sie stellen zu viele Fragen.«
»Ich wollte Ihnen ein Angebot zur Beendigung dieser Sache machen, aber jetzt sehe ich, daß Sie es nie angenommen hätten.
Sie sind der Hermann Göring des einund zwanzigsten Jahrhunderts. Ihre Besitzgier ist grenzenlos.«
»Ja, aber im Gegensatz zu Herrn Göring, den ich gut gekannt habe, bin ich kein Kunsträuber.«
»Wie würden Sie sich selbst bezeichnen?«
»Ich bin Sammler. Dies ist eine besondere Sammlung, eine sehr private Sammlung, aber trotzdem eine Sammlung.«
»Ich bin nicht der einzige, der in dieser Sache Bescheid weiß.
Anna Rolfe ist ebenso informiert wie mein Dienst. Sie können mich beseitigen, aber irgendwann bekommt doch jemand heraus, was Sie hier versteckt halten.«
Gessler lachte, ein trockenes, humorloses Lachen. »Herr Allon, niemand wird jemals erfahren, was in diesen Räumen aufbewahrt wird. Wir Schweizer wissen unsere Bürgerrechte zu wahren. Niemand wird jemals imstande sein, diese Türen ohne mein Einverständnis zu öffnen. Um das wirklich unmöglich zu machen, habe ich eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme ergriffen: Ich habe eine weitgehend unbekannte Gesetzeslücke ausgenützt
Weitere Kostenlose Bücher