Der Engländer
Sie hatten einen Auftrag erhalten - in jedem Muskel seines Körpers Blutergüsse hervorzurufen, ihm das Gesicht blutig zu schlage n - und führten ihn auf höchst professionelle und bürokratische Art aus. In regelmäßigen Abständen verließen sie den Raum zu einer Zigarettenpause. Das wußte Gabriel, denn er roch frischen Tabakrauch, wenn sie zurückkamen. Er versuchte sie zu hassen, diese blauuniformierten Krieger des Bankhauses Gessler, aber das gelang ihm nicht. Peterson war der Mann, den er haßte.
Nach etwa einer Stunde kam Peterson zurück.
»Wo sind die Gemälde, die Sie aus Rolfes Bankschließfach in Zürich geholt haben?«
»Welche Gemälde?«
»Wo ist Anna Rolfe?«
»Wer?«
»Nehmt ihn euch noch mal vor. Vielleicht hilft das seinem Gedächtnis auf die Sprünge.«
Und so ging es weiter, ohne daß Gabriel hätte abschätzen können, für wie lange. Er wußte nicht, ob es Tag oder Nacht war, ob er seit Stunden oder Tagen gefangengehalten wurde.
Wie die Zeit verstrich, merkte er nur am Rhythmus ihrer Schläge und dem regelmäßigen Auftauchen Petersons.
»Wo sind die Gemälde, die Sie aus Rolfes Bankschließfach in Zürich geholt haben?«
»Welche Gemälde?«
»Wo ist Anna Rolfe?«
»Wer?«
»Also gut, seht zu, ob er noch etwas mehr aushält. Aber bringt ihn nicht um.«
Wieder Schläge. Diesmal anscheinend nicht ganz so lange, obwohl Gabriel das nicht sicher beurteilen konnte, weil er zwischendurch mehrmals bewußtlos wurde.
»Wo sind die Gemälde?«
»Welche… Gemälde?«
»Wo ist Anna Rolfe?«
»Wer?«
»Weitermachen!«
Noch ein äußerst schmerzhafter Schlag auf seine rechte Niere.
Noch eine eisenharte Faust in sein Gesicht. Noch ein Tritt in seinen Unterleib. »Wo sind die Gemälde?« Schweigen … »Wo ist Anna Rolfe?« Schweigen … »Der ist vorläufig erledigt. Laßt ihn liegen.«
Er suchte die Räume seiner Erinnerung nach einem stillen Ruheplatz ab. Hinter allzu vielen Türen entdeckte er Blut und Feuer und konnte keinen Frieden finden. Er umarmte seinen Sohn, er ging mit seiner Frau ins Bett. Der Raum, in dem er ihre nackte Leiche fand, war ihr Schlafzimmer in Wien, und die Begegnung, die er wiedererlebte, war ihre letzte. Er streifte durch Gemälde, die er restauriert hatte - durch Ölfarben, Pigmente und Wüsten aus unbemalter Leinwand -, bis er auf einer Terrasse ankam: auf einer Terrasse über einem Meer aus Blattgold und Aprikosentönen, auf der die im rötlichen Schein der Abendsonne brillante Violinenmusik erklang.
Zwei Wachmänner kamen herein. Gabriel machte sich auf weitere Mißhandlungen gefaßt. Statt dessen nahmen die beiden ihm die Handschellen ab und verbrachten die folgenden zehn Minuten damit, seine Wunden sorgfältig zu säubern und zu verbinden. Sie arbeiteten mit dem Zartgefühl von Leichenbestattern, die einen Toten ankleiden. Aus fast zugeschwollenen Augen beobachtete Gabriel, wie das Wasser in dem mitgebrachten Becken sich von seinem Blut erst rosa, dann rot färbte.
»Hier, schlucken Sie diese Tabletten.«
»Was geben Sie mir da? Zyanid?«
»Etwas gegen die Schmerzen. Danach fühlen Sie sich besser. Vertrauen Sie uns.«
Gabriel tat wie ihm geheißen und schluckte die Tabletten mit einiger Mühe. Die Männer gestatteten ihm, sich ein paar Minuten lang sitzend auszuruhen. Tatsächlich klangen die pochenden Schmerzen in Kopf und Körper überraschend schnell ab. Aber er wußte, daß sie nicht verschwunden, sondern nur betäubt waren.
»Wollen Sie jetzt aufstehen?«
»Das hängt davon ab, wohin Sie mich bringen.«
»Kommen Sie, wir helfen Ihnen.«
Die beiden faßten ihn behutsam an den Armen und zogen ihn hoch.
»Können Sie allein stehen? Können Sie gehen?«
Gabriel setzte den rechten Fuß nach vorn, aber die starken Prellungen in der Oberschenkelmuskulatur ließen das Bein einknicken. Die Männer konnten ihn eben noch auffangen, bevor er wieder zu Boden ging, und fanden das aus irgendeinem Grund zum Brüllen komisch.
»Langsam, ganz langsam. Kleine Schritte machen.«
»Wohin gehen wir?«
»Das ist eine Überraschung. Aber die tut nicht weh. Unser Ehrenwort!«
Die beiden führten ihn durch die Tür hinaus. Draußen lag ein tunnelartiger Korridor vor ihm: lang und weiß, mit Marmorboden und gewölbter Decke. Die Luft roch schwach nach Chlor. Anscheinend befanden sie sich in der Nähe von Gesslers Swimmingpool.
Auf den ersten Metern war Gabriel noch ganz auf die stützenden Hände angewiesen, aber als das Schmerzmittel durch seinen
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