Der Engländer
Schwimmhalle sichtbar: lang und niedrig, mit reichverzierten Kugellampen, die durch den aufsteigenden Nebel leuchteten. Auch drinnen hielten Männer Wache; durch die beschlagenen Scheiben konnte Gabriel sie schemenhaft erkennen. Einer von ihnen schien eine winzige Gestalt in einem Bademantel am Arm zu führen.
Und dann spürte Gabriel einen brennenden Schmerz in der rechten Niere. Er machte ein Hohlkreuz, warf seinen Kopf in den Nacken und sah für einige Augenblicke die verschneiten Tannenwipfel in einen Himmel aufragen, den er in seiner Qual als van Goghsche Orgie aus Farben und Licht und Bewegung wahrnahm. Dann traf ihn ein zweiter Schlag, diesmal auf den Hinterkopf. Der Himmel wurde schwarz, und er fie l nach vorn in den Schnee.
44 - NIDWALDEN, SCHWEIZ
Gabriel öffnete ein Auge; dann folgte langsam das zweite. Er hätte sie ebensogut geschlossen lassen können, denn das Dunkel, das ihn umgab, war vollkommen. Absolute Schwärze, dachte er. Theoretische Schwärze.
Der Raum, in dem er sich befand, war bitter kalt, der Boden rauher Beton, die Luft mit Schwefelgeruch und Feuchtigkeit geschwängert. Seine Hände waren hinter seinem Rücken mit nach außen gedrehten Handflächen mit Handschellen gefesselt, so daß die Schultermuskeln von aufgestauter Milchsäure brannten. Gabriel versuchte, sich die unnatürlich verkrümmte Haltung seines Körpers und seiner Gliedmaßen vorzustellen: rechte Gesichtshälfte und rechte Schulter flach auf dem Beton; linke Schulter hochgereckt; Becken verdreht; Beine ineinander verschlungen. Das erinnerte ihn an die Kunstakademie, wo manche Dozenten die Gliedmaßen von Aktmodellen verdreht hatten, um Muskeln und Sehnen und Formen zu verdeutlichen.
Vielleicht war er nur ein Modell für irgendein expressionistisches Schweizer Gemälde. Mann in einer Folterkammer - Künstler unbekannt.
Gabriel schloß die Augen und versuchte sich aufzusetzen, aber schon die geringste Anspannung der Rückenmuskeln ließ seine rechte Niere wie Feuer brennen. Trotzdem kämpfte er gegen die Schmerzen an und schaffte es schließlich, sich aufzusetzen. Als er den Kopf an die Wand lehnte, zuckte er vor Schmerzen zusammen. Von dem zweiten Schlag war eine Beule von der Größe eines Hühnereis an seinem Hinterkopf zurückgeblieben.
Er tastete mit den Fingerspitzen die Wand hinter sich ab: nackter Stein, vermutlich Granit. Feucht und teilweise glitschig bemoost. Eine Höhle? Irgendeine Art Grotte? Oder nur eine weitere Schatzkammer? Die Schweizer und ihre verdammten Tresorräume! Er fragte sich, ob sie ihn wie einen Goldbarren oder ein Louis-Quinze-Möbel für immer hierlassen würden.
Die Stille war so absolut wie die Dunkelheit. Nichts von oben oder unten. Keine Stimmen, kein Hundegebell, weder Wind noch Regen; nur diese Stille, die in seinem Ohr wie der Ton einer Stimmgabel vibrierte.
Wie mochte Peterson das geschafft haben? Wie hatte er dem Wachmann signalisiert, daß Gabriel ein unbefugter Eindringling war? Durch ein Codewort am Tor? Ein fehlendes Kennwort?
Und was war mit Eli Lavon und Oded? Saßen sie weiterhin vorn in ihrem VW-Kastenwagen? Oder befanden sie sich in derselben Lage wie er oder in einer schlimmeren? Gabriel dachte an Lavons Warnung im Garten des italienischen Landhauses: Leute wie Otto Gessler bleiben immer Sieger.
Irgendwo wurde eine dicht schließende Tür geöffnet, und Gabriel konnte die Schritte mehrerer Leute hören. Zwei Stablampen wurden eingeschaltet, und ihre hellen Strahlen suchten den Raum ab, bis sie sein Gesicht fanden. Gabriel kniff die Augen zusammen und versuchte, den Kopf vom Licht wegzudrehen, aber diese jähe Bewegung verursachte ihm heftig pochende Kopfschmerzen.
»Stellt ihn auf die Füße.«
Petersons Stimme: energisch, befehlsgewohnt. Peterson in seinem Element.
Zwei Händepaare packten Gabriel an den Armen, rissen ihn hoch. Die Schmerzen waren entsetzlich, und er fürchtete, die Schultergelenke könnten aus ihren Pfannen springen. Peterson holte mit geballter Faust aus und vergrub sie in seinem Unterleib. Gabriel sackte nach vorn, als seine Knie nachgaben.
Petersons hochgerissenes Knie traf ihn im Gesicht. Als die Wachmänner ihn losließen, brach er zusammen und blieb in derselben verkrümmten Haltung liegen, in der er vorhin zu sich gekommen war.
Mann in einer Folterkammer von Otto Gessler.
Sie arbeiteten als Team zusammen: Einer hielt ihn fest, der andere schlug auf ihn ein. Sie arbeiteten effizient und stetig, aber ohne Engagement oder Begeisterung.
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