Der Engländer
rächte sich dafür, indem er ein fremdes Maultier oder ein Dutzend Schafe schlachtete. Ein prächtiger Olivenbaum wurde umgehauen. Ein mühsam errichteter Weidezaun umgeworfen. Oder ein Haus brannte ab. Dann passierten die ersten Morde. So konnte es weitergehen, manchmal über Jahrzehnte hinweg, bis die beteiligten Parteien ihren alten Streit beilegten oder den Kampf erschöpft aufgaben.
Auf Korsika waren die meisten Männer nur allzugern bereit, selbst zu töten. Aber es gab immer Leute, die für diese blutige Arbeit Handlanger brauchten: Notabeln, die sich nicht selbst die Hände schmutzig machen oder Gefahr laufen wollten, verhaftet zu werden oder ins Exil gehen zu müssen; Frauen, die nicht selbst zur Waffe greifen konnten und keine männlichen Verwandten hatten, die für sie einsprangen. Solche Leute engagierten Berufskiller: die taddunaghiu. Wer professionelle Hilfe brauchte, wandte sich im allgemeinen an die Familie Orsati.
Die Orsatis besaßen fruchtbares Land mit vielen Olivenbäumen, die das beste Öl ganz Korsikas lieferten. Aber sie stellten nicht nur ausgezeichnetes Olivenöl her. Niemand - am wenigsten die Familie selbst - konnte genau sagen, wie viele Korsen die Orsatis im Lauf der Jahrhunderte ermordet hatten, aber nach hiesiger Überlieferung ging ihre Zahl in die Tausende.
Sie hätte erheblich höher sein können, hätte die Familie nicht auf einem rigorosen Prüfverfahren bestanden. In alten Zeiten hatten die Orsatis sich an einem strikten Verhaltenskodex orientiert. Sie weigerten sich, einen Mordauftrag zu übernehmen, wenn nicht überzeugend dargelegt wurde, daß dem Auftraggeber tatsächlich ein Unrecht zugefugt worden war, das blutig gerächt werden mußte.
Antonio Orsati hatte das Steuer des Familienunternehmens in schwierigen Zeiten übernommen. Den französischen Behörden war es gelungen, Fehden und die Vendetta außer in den entlegensten Winkeln der Insel auszurotten. Nur sehr wenige Korsen nahmen noch die Dienste der taddunaghiu in Anspruch.
Aber Antonio Orsati war ein gerissener Geschäftsmann. Er wußte, daß er die Familientradition aufgeben und sich darauf konzentrieren konnte, nur noch hervorragendes Olivenöl zu produzieren - oder daß er seinen Tätigkeitsbereich ausweiten und sich anderswo neue Geschäftsfelder erschließen mußte. Er entschied sich für den zweiten Weg und weitete sein Einsatzgebiet aufs Festland aus. Gegenwärtig galten seine Leute als die professionellsten und zuverlässigsten Berufskiller ganz Europas. Sie durchstreiften den Kontinent und mordeten im Auftrag von Reichen, Kriminellen, Versicherungsbetrügern und manchmal sogar Regierungen. Die meisten ihrer Opfer hatten den Tod verdient, aber der Wettbewerb und die Zwänge der Moderne hatten Antonio Orsati keine andere Wahl gelassen, als auf den Verhaltenskodex seiner Familie zu verzichten. Jeder Auftrag, der auf seinen Schreibtisch flatterte, wurde jetzt angenommen - auch wenn er noch so widerwärtig war -, solange er das Leben des dafür eingesetzten Killers nicht unvernünftig gefährdete.
Orsati fand es immer etwas belustigend, daß sein bester Angestellter kein Korse, sondern ein Engländer aus Highgate in North London war. Nur Orsati kannte seine wahre Biographie.
Daß er beim berühmten Special Air Service gedient hatte. Daß er in Nordirland und im Irak Männer getötet hatte. Daß seine ehemaligen Vorgesetzten ihn für tot hielten. Der Engländer hatte Orsati einmal einen Ausschnitt aus einer Londoner Zeitung gezeigt. Seinen Nachruf. Speziell in seinem Beruf sehr nützlich, dachte Orsati. Nach Toten wurde nicht oft gefahndet.
Auch wenn er vo n Geburt Engländer war, fand Orsati immer, er besitze die ruhelose Seele eines Korsen. Er beherrschte den hiesigen Dialekt so gut wie Orsati, mißtraute Fremden und verabscheute jegliche staatliche Autorität. Abends saß er mit den alten Männern auf dem Dorfplatz, beobachtete verdrießlich die lärmenden Jungen auf ihren Skateboards und murrte darüber, daß die Jugend keinen Respekt vor den alten Traditionen besitze. Er war ein Ehrenmann - für Orsatis Geschmack manchmal zu ehrenhaft. Trotzdem war er ein ausgezeichneter Killer, der beste Mann seines Fachs, den Orsati je gekannt hatte.
Er war von den effizientesten Killern der Welt ausgebildet worden, und Orsati hatte viel von ihm gelernt. Außerdem war er für bestimmte Aufträge auf dem Festland besser geeignet als jeder andere, deshalb erschien Antonio Orsati an diesem Nachmittag mit einer
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