Der Engländer
diese Tatsache geheimnißte Rosa aus dem Lebensmittelgeschäft viel hinein. Sie gelangte zu dem Schluß, Unsere Liebe Frau sei eine Spionin und die Firma European Artistic Management lediglich ein Tarnunternehmen. Wie hätte ihre Heimlichtuerei sich sonst erklären lassen? Ihre plötzlichen Abwesenheiten und ihre Gewohnheit, dann ebenso überraschend zurückzukehren? Aber auch diese Frage wurde schließlich von Manuel beantwortet.
Eines Abends, als in seinem Café wieder einmal die Debatte tobte, griff er unter die Theke und holte eine CD mit Violinkonzerten von Brahms hervor. Auf dem Cover war Unsere Liebe Frau abgebildet. »Sie heißt Anna Rolfe«, sagte Manue l triumphierend. » Unsere Liebe Frau vom Hügel ist eine weltberühmte Geigerin.«
Sie war jedoch auch eine Frau, der immer wieder Unfälle zustießen. An einem Nachmittag stürzte sie mit ihrem Motorroller, und Carlos fand sie mit zwei gebrochenen Rippen am Straßenrand auf. Einen Monat später rutschte sie am Rand des Pools aus, fiel hin und hatte eine leichte Gehirnerschütterung. Nur zwei Wochen danach verlor sie oben an der Treppe das Gleichgewicht, polterte die Stufen hinunter und landete auf Marias Kehrblech.
Carlos gelangte zu dem Schluß, Unsere Liebe Frau sei aus irgendeinem Grund einfach außerstande, auf sich selbst aufzupassen. Sie war kein leichtsinniges Wesen, nur unvorsichtig, und schien nichts aus früheren Fehlern zu lernen.
»Für den Ruf unseres Dorfes wäre es schlimm, wenn eine so berühmte Frau zu Schaden käme«, stellte Manuel ernst fest. »Sie muß vor sich selbst geschützt werden.«
Und so begann Carlos, sie diskret, aber trotzdem aufmerksam im Auge zu behalten. Schwamm sie morgens ihre Bahnen im Pool, fand er irgendwo in der Nähe Arbeit, um sie unauffällig beobachten zu können. Er inspizierte ihren Motorroller regelmäßig ohne ihr Wissen, um sich zu vergewissern, daß er sich in technisch einwandfreiem Zustand befand. In den einsamen Weilern auf den Hügeln organisierte er ein Netzwerk aus Beobachtern, damit sichergestellt war, daß Unsere Liebe Frau sich bei ihren nachmittäglichen Wanderungen ständig unter Aufsicht befand.
Sein Pflichteifer machte sich bezahlt. So war es Carlos, der entdeckte, daß Unsere Liebe Frau an einem Nachmittag, an dem ein schrecklicher Sturm von See übers Land hereinbrach, auf den Hügeln unterwegs war. Er fand sie unter einer Lawine aus Geröll auf, in der ihre linke Hand unter einem schweren Felsblock eingeklemmt war, und schleppte die Bewußtlose ins Dorf hinunter.
Wäre Carlos nicht gewesen, sagten die Ärzte in Lissabon, hätte Anna Rolfe bestimmt ihre berühmte linke Hand verloren.
Ihre Rehabilitation war ein langer, schmerzlicher Prozeß - für alle Beteiligten. Ihr linker Arm war mehrere Wochen lang in einer leichten Glasfaserschale fixiert. Da sie ihren Motorroller so nicht fahren konnte, mußte Carlos auch die Rolle des Chauffeurs übernehmen. Jeden Morgen kletterten sie in ihren weißen Landrover und rumpelten den Hügel hinunter ins Dorf.
Bei diesen Fahrten saß Unsere Liebe Frau schweigend auf dem Beifahrersitz, starrte aus dem Fenster und hatte ihre verbundene Hand auf dem Schoß liegen. Einmal versuchte Carlos, sie mit Mozart aufzuheitern. Sie nahm die CD aus dem Radio und schleuderte sie aus dem Fenster zwischen die Bäume, an denen sie gerade vorbeifuhren. Carlos machte nie mehr den Fehler, Musik für sie spielen zu wollen.
Die Verbände wurden von Mal zu Mal kleiner, bis schließlich gar keiner mehr nötig war. Die starke Schwellung ging zurück, und ihre Hand sah äußerlich wieder ganz normal aus. Nur die häßlichen Narben bis übers Handgelenk hinauf blieben. Unsere Liebe Frau tat ihr Bestes, um sie zu verbergen. Sie trug langärmelige Blusen mit Spitzenmanschetten. Ging sie durchs Dorf, um Einkäufe zu machen, steckte sie die Hand unter ihren rechten Arm.
Ihre Stimmung verfinsterte sich weiter, als sie wieder Geige zu spielen versuchte. Fünf Tage hintereinander ging sie jeden Nachmittag in ihren Übungsraum im ersten Stock der Villa hinauf. Jeden Tag versuchte sie, etwas Elementares zu spielen - eine kleine Tonleiter über zwei Oktaven hinweg, ein Arpeggio -, aber selbst das war für ihre schwergeschädigte Hand zuviel.
Schon nach kurzem erklang ein schmerzlicher Aufschrei, dem laut gekreischte deutsche Verwünschungen folgten. Am fünften Tag beobachtete Carlos vom Weinberg aus, wie Unsere Liebe Frau ihre unbezahlbare Meistergeige von Guarneri über den
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