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Der Engländer

Der Engländer

Titel: Der Engländer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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entgegengestreckt, um so nach korsischer Art den bösen Blick des Fremden abzuwehren. Jetzt winkten die Kinder ihm lachend zu, als er durchs Dorf raste und die Sackgasse hinauffuhr, an deren Ende seine Villa lag.
    Unterwegs kam er an einem alten paesanu vorbei, der ein kleines Gemüsebeet am Straßenrand bestellte. Er erwiderte den Blick des Engländers aus unter seinem breitkrempigen Hut hervorblitzenden schwarzen Augen und machte als Gruß eine kaum wahrnehmbare Bewegung mit Zeige-und Mittelfinger der rechten Hand. Der alte paesanu gehörte zu der Familie, die den Engländer sozusagen adoptiert hatte. Weiter oben an der Straße trat ein Junge namens Giancomo auf die Fahrbahn und schwenkte seine Arme, um dem Engländer zu signa lisieren, er solle anhalten.
    »Willkommen daheim. Haben Sie eine gute Reise gehabt?«
    »Eine sehr gute.«
    »Was haben Sie mir mitgebracht?«
    »Kommt darauf an.«
    »Worauf?«
    »Ob du meine Villa während meiner Abwesenheit bewacht hast.«
    »Natürlich habe ich das getan, genau wie ich's Ihnen versprochen hatte.«
    »War jemand hier?«
    »Nein, ich habe niemand gesehen.«
    »Ganz bestimmt nicht?«
    Als Giancomo nickte, nahm der Engländer eine aus feinstem spanischen Leder handgenähte Mappe vom Rücksitz und reichte sie ihm hinaus. »Für deine Schulbücher - damit du sie nicht mehr auf dem Heimweg verlierst.«
    Der Junge hob die Mappe ans Gesicht und atmete den Ledergeruch ein. Dann fragte er: »Haben Sie Zigaretten für mich?«
    »Du sagst deiner Mutter nichts?«
    »Natürlich nicht!«
    Die Männer gaben vor, Korsika zu beherrschen, aber die wahre Macht lag in den Händen der Mütter. Der Engländer gab dem Jungen eine halbvolle Schachtel.
    Giancomo steckte sie in die Ledermappe. »Noch was…«
    »Was denn?«
    »Don Orsati möchte Sie sprechen.«
    »Wann hast du ihn gesehen?«
    »Heute morgen.«
    »Wo?«
    »Im Café im Dorf.«
    »Wo ist er jetzt?«
    »Im Café im Dorf.«
    Orsati führt ein streßreiches Leben, dachte der Engländer.
    »Sag ihm, er möchte zum Mittagessen zu mir kommen. Aber richte ihm aus, daß es nur das zu essen gibt, was er selbst mitbringt.«
    Der Junge lächelte, dann flitzte er davon, wobei er seine neue Mappe in einer Hand schwang. Der Engländer gab wieder Gas und fuhr mit seinem Jeep weiter den Hügel hinauf. Wenige hundert Meter vor seiner Villa bremste er scharf und brachte den Geländewagen in einer Wolke aus rotem Staub zum Stehen.
    Mitten auf dem schmalen Weg stand ein großer Ziegenbock.
    Er war isabellfarben und hatte einen rötlichen Bart. Wie der Engländer trug er die Narben früherer Kämpfe. Der Bock verabscheute den Engländer und blockierte die Zufahrt zu seiner Villa, wann immer es ihm paßte. Der Engländer hatte schon oft davon geträumt, diesen Konflikt endgültig mit der Glock-Pistole aus seinem Handschuhfach zu lösen. Aber der Ziegenbock gehörte Don Casabianca, und wer ihm etwas antat, mußte damit rechnen, eine Fehde auszulösen.
    Der Engländer hupte laut. Don Casabiancas elender Ziegenbock warf seinen Kopf in den Nacken und funkelte ihn trotzig an. Dem Engländer standen zwei Möglichkeiten offen, beide gleich unangenehm: Er konnte warten, bis das Tier sich von selbst trollte, oder versuchen, es zu verjagen.
    Er vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, daß niemand ihn beobachtete. Dann sprang er aus dem Wagen, stürmte auf den Ziegenbock zu, schwenkte dabei die Arme und kreischte wie ein Wahnsinniger, bis das Tier erschrocken zurückwich und in den Schutz der macchia flüchtete. Ein passender Zufluchtsort für die Bestie, dachte der Engländer - die macchia, der Ort, an dem alle Diebe und Banditen letztlich seßhaft werden.
    Dann setzte er sich wieder ans Steuer des Jeeps, fuhr zu seiner Villa hinauf und dachte unterwegs über diese beschämende Szene nach. War es nicht absolut lächerlich, daß ein erfahrener Berufskiller nicht einmal sein eigenes Haus erreichen konnte, ohne zuvor von Don Casabiancas elendem Ziegenbock gedemütigt zu werden?
    Auf Korsika hatte es nie viel bedurft, um eine Fehde auszulösen.
    Eine persönliche Beleidigung. Der Vorwurf, auf dem Markt betrogen zu haben. Die Auflösung eines Verlöbnisses. Die Schwangerschaft einer ledigen Frau. Im Dorf des Engländers hatte es einmal eine vierzig Jahre andauernde Fehde wegen der Kirchenschlüssel gegeben. Nach dem ersten Funken eskalierte der Konflikt rasch. Beginnen konnte er damit, daß ein Ochse tot aufgefunden wurde. Der Besitzer des Ochsen

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