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Der Engländer

Der Engländer

Titel: Der Engländer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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Zigarette. Peterson achtete nicht auf sie. Sein Blick blieb starr auf die drei Photos gerichtet, die nebeneinander auf seiner grünledernen Schreibunterlage ausgelegt waren. Allon mit Anna Rolfe beim Verlassen der Villa. Allon mit Anna Rolfe beim Einsteigen in eine Mercedes-Limousine. Allon mit Anna Rolfe beim Wegfahren. Zuletzt bewegte er sich, als schrecke er aus einem bösen Wachtraum auf, steckte die Photos einzeln in seinen Aktenvernichter und beobachtete seltsam befriedigt, wie sie sich in Konfetti verwandelten. Dann nahm er den Telefonhörer ab, wählte eine Nummer, die er auswendig wußte, und wartete darauf, daß sich jemand meldete. Zwanzig Minuten später, nachdem er alle Termine für diesen Tag abgesagt hatte, stieg er in seinen Mercedes und raste den Zürichsee entlang zu Herrn Gesslers Chalet in den Bergen.

12 - KORSIKA
    Die alte signadora lebte im Dorf in einem halbverfallenen Haus unweit der Kirche. Sie begrüßte den Engländer wie jedes Mal: sorgenvoll lächelnd und mit einer Hand seine Wange tätschelnd.
    Sie trug ein steifes schwarzes Kleid mit gestickten Applikationen am Kragen. Ihr Teint war mehlig weiß, und ihr straff zurückgekämmtes schlohweißes Haar wurde von Haarklammern aus Metall zusammengehalten. Seltsam, wie ethnische und sonstige körperliche Merkmale im Lauf der Zeit verschwinden, dachte der Engländer. Wären ihr korsischer Dialekt und ihr katholischer Mystizismus nicht gewesen, hätte sie ohne weiteres seine alte Tante Beatrice aus Ipswich sein können. »Das Böse ist zurückgekehrt, mein Sohn«, flüsterte sie, während sie seine Wange streichelte. »Das kann ich in deinen Augen sehen. Setz dich. Laß mich dir helfen.«
    Als der Engländer sich an ihren kleinen Holztisch setzte, zündete die Alte eine Kerze an. Vor ihn stellte sie zwei Gefäße: einen Suppenteller mit Wasser und eine kleinere Schale mit Öl.
    »Drei Tropfen«, sagte sie. »Dann werden wir sehen, ob meine Ängste berechtigt sind.«
    Der Engländer tauchte seinen rechten Zeigefinger ins Öl; dann hielt er ihn über den Teller und ließ drei Tropfen ins Wasser fallen. Allen Naturgesetzen nach hätten sie sich zu einem einzelnen großen Tropfen zusammenklumpen müssen, aber statt dessen zerstoben sie in tausend winzige Tröpfchen und waren wenig später verschwunden. Die Alte seufzte schwer und bekreuzigte sich. Dies war der unwiderlegbare Beweis dafür, daß der occhju, der böse Blick, die Seele des Engländers in Beschlag genommen hatte.
    Sie ergriff die Rechte des Engländers, bekreuzigte sich nochmals und begann zu beten. Nur wenig später brach sie in Tränen aus - ein sicheres Zeichen dafür, daß der occhju aus seinem Körper in ihren übergegangen war. Dann schloß sie die Augen und schien zu schlafen. Als sie nach kurzer Zeit erwachte, wies sie ihn an, die Probe mit Öl und Wasser zu wiederholen. Diesmal klumpte das Öl sich zu einem großen Tropfen zusammen. Das Böse war ausgetrieben worden.
    »Ich danke dir«, sagte er und ergriff die Hand der Alten. Sie überließ sie ihm einen Augenblick, dann wich sie vor ihm zurück, als habe er ein ansteckendes Fieber. Der Engländer fragte verwundert: »Was hast du?«
    »Bleibst du eine Zeitlang hier im Tal, oder gehst du wieder fort?«
    »Ich muß wieder fort, fürchte ich.«
    »In Don Orsatis Diensten?«
    Der Engländer nickte. Vor der alten signadora hatte er keine Geheimnisse.
    »Hast du deinen Talisman?«
    Er knöpfte sein Hemd auf. An einem dünnen Lederriemen um seinen Hals hing ein Korallenstück in Form einer Hand. Sie griff danach und betastete es mit ihren vom Alter gekrümmten Fingern, als wolle sie sich vergewissern, daß der Talisman noch die mystische Kraft besaß, den occhju abzuwehren. Sie wirkte befriedigt, aber weiterhin sorgenvoll.
    »Sieht du etwas?« fragte der Engländer. 
    »Ich sehe einen Mann.«
    »Wie ist dieser Mann?«
    »Er ist genau wie du, aber er ist ein Ketzer. Du solltest ihm aus dem Weg gehen. Du tust, was ich dir sage?«
    »Das tue ich immer.«
    Der Engländer küßte ihre Hand, dann drückte er ihr mehrere zusammengerollte Geldscheine in die Handfläche.

    »Das ist zuviel«, sagte sie.
    »Das sagst du immer.«
    »Weil du mir immer viel zuviel gibst.«

TEIL II

13 - ROM
    Eine Stunde nach Tagesanbruch überquerten sie die italienische Grenze. Gabriel war schon lange nicht mehr so erleichtert gewesen, ein Land verlassen zu können. Er fuhr in Richtung Mailand weiter, während Anna neben ihm schlief. Sie wurde von Alpträumen

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