Der Engländer
Raum, ungefähr zehn mal fünfzehn Meter, Parkettboden, cremeweiße Wände. In seiner Mitte standen zwei bequeme Drehsessel. Anna blieb neben einem davon stehen und verschränkte die Arme. Gabriel betrachtete die leeren Wände.
»Wo sind wir hier?«
»Mein Vater hatte zwei Gemäldesammlungen. Eine, die alle Welt sehen durfte, und eine zweite, die hier unten hing. Die nur für ihn allein bestimmt war.«
»Was für Bilder waren das?«
»Französische Gemälde aus dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert - vor allem Impressionisten.«
»Haben Sie eine Liste davon?«
Sie nickte.
»Wer hat außer Ihnen von dieser Sammlung gewußt?«
»Meine Mutter und mein Bruder, versteht sich, aber die sind beide tot.«
»Sonst niemand?«
»Nur noch Werner Müller.«
»Wer ist Werner Müller?«
»Ein Kunsthändler, der meinen Vater beraten hat. Müller hat auch Bau und Einrichtung dieser Galerie beaufsichtigt.«
»Ist er Schweizer?«
Anna nickte. »Er hat zwei Galerien. Eine in Luzern, die andere in Paris unweit der Avenue de l'Opera. Er lebt überwiegend in Paris. Haben Sie genug gesehen?«
»Vorläufig schon.«
»Ich möchte Ihnen noch etwas anderes zeigen.«
Sie fuhren mit dem Aufzug nach oben und gingen durch die dunkle Villa zu einem fensterlosen kleinen Raum voller blinkender Überwachungsgeräte und Bildschirme. Auf den Monitoren konnte Gabriel die Villa von allen Seiten sehen: die Straße, den Eingang, die drei Gartenseiten.
»Das gesamte Grundstück wird nicht nur von Kameras überwacht, sondern ist auch mit Bewegungsmeldern gespickt«, sagte Anna. »Alle Fenster und Türen sind mit Alarmanlagen gesichert. Mein Vater hat kein Sicherheitspersonal beschäftigt, aber die Villa gleicht einer Festung, und er konnte notfalls sekundenschnell die Polizei alarmieren.«
»Aber was ist in der Nacht passiert, in der er ermordet wurde?«
»Das System hat unerklärlicherweise versagt.«
»Wie praktisch.«
Anna setzte sich vor ein Terminal. »Die unterirdische Galerie hat ihr eigenes Sicherheitssystem. Es wird aktiviert, sobald die Eingangstür sich öffnet. Die Besuchszeit wird automatisch registriert, und im Raum selbst machen zwei Digitalkameras alle drei Sekunden ein Standbild.«
Sie tippte einen Befehl ein, bewegte die Maus und klickte.
»Hier betreten wir die Galerie - 0 Uhr 49 -, und hier sind wir drinnen.«
Gabriel beugte sich über ihre Schulter und sah auf den Bildschirm. Auf dem Monitor erschien ein körniges Farbbild von ihrem Besuch, das sich dann auflöste, um durch die nächste Aufnahme ersetzt zu werden. Anna bewegte die Maus erneut.
Ein Verzeichnis erschien.
»Das ist die Liste sämtlicher Besuche in den vergangenen drei Monaten. Wie Sie sehen, hat mein Vater viel Zeit mit seiner Sammlung verbracht. Er ist jeden Tag mindestens einmal hier heruntergefahren, manchmal auch zweimal.« Sie tippte mit einem Zeigefinger auf den Bildschirm. »Dies ist sein letzter Besuch, kurz nach Mitternacht, am Morgen des Tages, an dem er ermordet wurde. Danach hat das Sicherheitssystem keine weiteren Besuche mehr registriert.«
»Hat die Polizei Ihnen gesagt, wann er vermutlich ermordet worden ist?«
»Gegen drei Uhr morgens.«
»Folglich ist anzunehmen, daß dieselben Leute, die Ihren Vater ermordet haben, auch die Gemälde gestohlen haben, und daß das gegen drei Uhr morgens passiert ist - sechs Stunden vor meiner Ankunft in der Villa.«
»Ja, das stimmt.«
Gabriel deutete auf die unterste Zeile des Verzeichnisses.
»Lassen Sie mich seinen letzten Besuch sehen.«
Sekunden später flimmerten die Standbilder über den Monitor.
Die Kameras erfaßten nicht alle Gemälde, aber Gabriel sah genug, um zu erkennen, daß es sich um eine bemerkenswerte Sammlung gehandelt hatte. Manet, Bonnard, Toulouse-Lautrec, Cézanne, Pissarro, Degas, ein Akt von Renoir, eine Kanalszene von van Gogh, zwei Straßenszenen von Monet, ein großes Frauenporträt aus Picassos blauer Periode. Und in der Mitte des Raums saß ein alter Mann aufrecht in einem Sessel und betrachtete zum letzten Mal in seinem Leben seine Gemäldesammlung.
11 - ZÜRICH
Fünf Stunden später saß Gerhardt Peterson allein in seinem Züricher Dienstzimmer, einer Höhle aus hellem, skandinavischem Holz mit Blick auf den düsteren Innenhof mit altersdunklem Kopfsteinpflaster. Sein Computer war ausgeschaltet, seine Morgenpost ungeöffnet, seine Bürotür entgegen seiner sonstigen Gewohnheit abgeschlossen. In seinem Aschenbecher verglühte langsam eine
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