Der Engländer
gequält, warf ihren Kopf hin und her, trug private Schlachten aus. Als der Traum sie endlich aus seinen Klauen ließ, fuhr sie hoch und starrte Gabriel mit schreckgeweiteten Augen an, als könne sie sich seine Anwesenheit nicht erklären. Dann schloß sie die Augen wieder, und wenig später begann der nächste Kampf.
In einer Autobahnraststätte frühstückten sie schweigend wie ein ausgehungertes Liebespaar: Omeletten und Croissants, dazu große Schalen Milchkaffee. Auf den letzten Kilo metern vor Mailand sprachen sie ihren Plan nochmals durch. Anna würde nach Lissabon zurückfliegen; Gabriel würde den Mercedes behalten und nach Rom weiterfahren. Auf dem Flughafen hielt er am Gehsteig vor dem Abfluggebäude und stellte den Wahlhebel auf P. »Bevor wir weitermachen, müssen Sie mir etwas erklären.«
»Sie wollen wissen, warum ich den Diebstahl der Gemälde nicht bei der Züricher Polizei angezeigt habe?«
»Richtig.«
»Die Antwort ist ganz einfach: Ich traue ihr nicht. Deshalb habe ich Sie angerufen und Ihnen den Raum, aus dem die Bilder verschwunden sind, überhaupt gezeigt.« Sie drückte ihm zum Abschied die Hand. »Ich traue der Schweizer Polizei nicht, Mr. Allon, und Sie sollten es ebenfalls nicht tun. Ist Ihre Frage damit beantwortet?«
»Vorläufig schon.«
»Danke«, sagte sie. »Und seien Sie um Himmels willen vorsichtig.«
Sie stieg aus und verschwand im Terminal. Ihr Parfüm hing noch lange im Wagen - ebenso wie die einfache Frage, die Gabriel nicht aus dem Kopf ging. Warum sollte eine Bande professioneller Kunstdiebe sich die Mühe machen, Rolfes Privatsammlung zu stehlen, aber einen Raffael an der Wand im Salon hängen lassen?
Rom roch nach Herbst. Nach bitterem Kaffee und in Olivenöl gebratenem Knoblauch. Nach Holzrauch und auf nassem Asphalt liegendem Laub. Gabriel nahm sich ein Zimmer in einem kleinen Hotel am Corso d'Italia gegenüber den riesigen Gärten der Villa Borghese. Sein Zimmer führte auf einen winzigen Innenhof mit einem abgestellten Springbrunnen und für den Winter wie Rosenbüsche eingepackten Sonnenschirmen hinaus. Er fiel ins Bett und schlief sofort ein.
Daß er zuletzt von Wien geträumt hatte, war schon lange her, aber irgend etwas, das er in Zürich gesehen hatte, hatte sein Unterbewußtsein in Aufruhr versetzt, und er träumte jetzt wieder von damals. Der Traum begann wie jedesmal: Gabriel schnallt seinen Sohn auf dem Rücksitz des Wagens an, ohne zu ahnen, daß er ihn auf einer Autobombe festschnallt, angebracht von einem Palästinenser, der geschworen hat, ihn zu vernichten. Er küßt seine Frau, verabschiedet sich zum letztenmal von ihr und geht davon. Dann explodiert der Wagen. Gabriel rappelt sich auf und rennt zurück. Er braucht mehrere Minuten, um seinen kaum zwanzig Meter entfernten Wagen zu erreichen. Er findet seinen Sohn von der Autobombe zerfetzt vor. Am Steuer sitzt eine Frau, die schwerste Verbrennungen erlitten hat. Nur ist diese Frau jetzt nicht mehr Leah, sondern Anna Rolfe.
Schließlich gelang es ihm, diesen Traum durch reine Willenskraft zu beenden. Er wachte naßgeschwitzt auf, sah auf seine Armbanduhr. Er hatte zwölf Stunden lang geschlafen.
Gabriel duschte und zog sich an. Draußen war es früher Vormittag, weiße Wattebauschwolken trieben über den azurblauen Himmel, und der Wind heulte über den breiten Corso d'Italia. Nachts hatte es geregnet, und der stürmische Wind erzeugte Wellen auf den großen Wasserlachen im Rinn-stein. Er machte einen Spaziergang zur Via Veneto, kaufte sich die Tageszeitungen und las sie beim Frühstück in einem Café.
Nach einer Stunde verließ er das Café, betrat eine Telefonzelle und tippte eine Nummer ein, die er auswendig wußte. Klick… summ… klick… Danach eine Frauenstimme, scheinbar weit entfernt, leicht hallend. »Ja?«
Gabriel meldete sich unter dem Namen Stevens, einem seiner alten Decknamen, und sagte, er wolle sich mit Mr. Baker im Restaurant Il Drappo zum Mittagessen treffen. Eine Pause, ein weiteres Klicken, ein langer Summton und ein Klirren wie von zerschellendem Porzellan. Dann wieder die Frauenstimme.
»Mr. Baker läßt ausrichten, daß er mit einem Mittagessen im Il Drappo einverstanden ist.«
Am anderen Ende wurde aufgelegt.
Gabriel wartete zwei Tage lang. Er stand jeden Morgen früh auf und joggte über die stillen Fußwege der Villa Borghese. Danach ging er zur Via Veneto, um in einem kleinen Café, an dessen Theke eine hübsche junge Rothaarige bediente, seinen Morgenkaffee
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