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Der Engländer

Der Engländer

Titel: Der Engländer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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etwa sieben Minuten -, aber das Ergebnis war dasselbe: Sie standen mit leeren Händen auf der Straße.
    Und so ging es in den folgenden zwei Stunden weiter. Jeder Auftritt war eine leichte Abwandlung desselben Themas. Nach kurzer Begutachtung durch die Überwachungskamera wurden sie in einen Vorraum eingelassen, in dem ein Angestellter der Bank sie höflich, aber zurückhaltend empfing. Anna übernahm es jeweils, ihr Anliegen in lebhaftem Züridütsch vorzutragen.
    Daraufhin wurden sie ins Allerheiligste geleitet - ins innere Büro, in dem die Geheimkonten verwaltet wurden - und durften in Besuchersesseln vor dem Schreibtisch des Bankiers Platz nehmen. Nach einigen nichtssagenden Nettigkeiten folgte ein diskretes Hüsteln, eine höfliche Erinnerung daran, daß hier Zeit vergeudet wurde, die im Züricher Bankenviertel noch mehr als anderswo Geld war.
    Dann sagte Anna jeweils: »Ich möchte Zugang zu dem Konto, das Herr Alois Ritter bei Ihnen hat.« Und sie gab die Kontonummer an. Eine Pause, ein kurzes Klappern auf der Computertastatur, ein langer prüfender Blick auf den leuchtenden Monitor. »Bedaure sehr, aber wir führen kein Konto unter dem Namen Alois Ritter.«
    »Wissen Sie das bestimmt?«
    »Ja, ganz bestimmt.«
    »Ich danke Ihnen. Entschuldigen Sie, daß wir Ihre wertvolle Zeit in Anspruch genommen haben.«
    »Keine Ursache. Hier ist unsere Karte. Vielleicht können wir in Zukunft einmal etwas für Sie tun.«
    »Sehr freundlich von Ihnen.«
    Nachdem sie elf Banken besucht hatten, saßen sie in dem kleinen Café Brioche bei einem Kaffee. Gabriel wurde allmählich nervös. Sie waren seit über zwei Stunden kreuz und quer im Bankenviertel unterwegs. Das konnte nicht lange unbemerkt bleiben.
    Ihre nächste Station war Becker & Pfuhl, wo sie von Herrn Becker persönlich empfangen wurden. Er war ein steifer, pedantischer, kahlköpfiger kleiner Mann. Während er auf seinen Monitor starrte, konnte Gabriel die geisterhafte Reflexion von Namen und Kontonummern sehen, die über die leicht getönten Gläser seiner randlosen Brille glitten.
    Nachdem Becker kurz die Bildschirmanzeige betrachtet hatte, hob er den Kopf und sagte: »Die Kontonummer bitte.«
    Anna wußte sie auswendig: 25 121 933 126.
    Becker gab die Nummer ein. »Kennwort?«
    Gabriel spürte, wie sein Puls sich beschleunigte. Er sah auf und stellte fest, daß Becker über den Rand seines Monitors hinwegblickte.
    Anna räusperte sich leicht und sagte: »Adagio.«
    »Kommen Sie bitte mit.«
    Der kleine Bankier führte sie aus seinem Büro in ein Besprechungszimmer mit hoher Decke, holzgetäfelten Wänden und einem rechteckigen Tisch mit dicker Rauchglasplatte. »Hier sind Sie ungestört«, sagte er. »Machen Sie es sich bitte bequem.
    Ich bringe Ihnen gleich die zum Konto Ritter gehörende Depotkassette.«
    Als Becker zurückkam, trug er eine stählerne Kassette in der Hand. »Die für dieses Konto getroffenen Vereinbarungen sehen vor, daß jeder, der Kontonummer und Kennwort nennt, Zugang zum Depot erhält«, erläuterte er, als er die Kassette auf den Tisch stellte. »Alle Schlüssel habe ich in Verwahrung.«
    »Ja, ich verstehe«, sagte Anna.

    Der Bankier pfiff tonlos vor sich hin, während er einen schweren Schlüsselring aus der Tasche zog und den richtigen Schlüssel auswählte. Als er ihn gefunden hatte, hielt er ihn ans Licht, um die eingravierte Nummer zu kontrollieren, bevor er die Depotkassette aufschloß und den Deckel aufklappte. Aus der Kassette drang sofort der leichte Modergeruch von altem Papier.
    Becker trat ein paar Schritte zurück, um respektvoll Abstand zu halten. »Zu diesem Depot gehört eine weitere Stahlkassette.
    Sie ist allerdings ziemlich groß, fürchte ich. Möchten Sie die zweite Kassette auch sehen?«
    Anna und Gabriel wechselten über den Tisch hinweg einen Blick, dann sagten sie wie aus einem Mund: »Ja.«
    Gabriel wartete, bis Becker den Raum verlassen hatte, bevor er den Deckel des länglichen Stahlbehälters hob. Er enthielt insgesamt sechzehn Gemälde, die alle sorgsam zusammengerollt in Schutzhüllen steckten: Monet, Picasso, Degas, van Gogh, Manet, Toulouse-Lautrec, Renoir, Bonnard, Cézanne, ein großartiger ruhender Frauenakt von Vuillard. Selbst Gabriel, ein Mann, der es gewöhnt war, mit unbezahlbar wertvollen Kunstwerken zu arbeiten, war von dieser Fülle fast überwältigt.
    Wie viele Leute hatten vergeblich nach genau diesen Bildern gefahndet? Wie viele Jahre lang? Wie viele Tränen waren wegen ihres Verlusts

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